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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1981 erschienen.

Systematik

P. Freire - "Pädagogik der Unterdrückten"
ENTWICKLUNGSHILFE FÜR DIE PÄDAGOGIK

Ein gewisser Paolo Freire macht seit einiger Zeit nicht nur unter dem Stand der Erzieher Furore, ihm - der sich doch zu den Revolutionären Südamerikas und glühenden Verehrern der "unterdrückten Volksmassen" zählt - wird sogar eine längere Fernsehsereie gewidmet. Daß es sich dabei nicht um Konterbande der linksradikalen Fraktion im ZDF handelt, merkt nnan an einem sehr schnell: Zur Revolution mag der "Revolutionär" gleich gar nicht aufrufen - vielmehr haben sich auch die Menschen im Urwald und in den Slums des dortigen Kontinents zu "ändern". Wer hätte das gedacht. Alles unter sachverständiger Anleitung einer eigens dafür maßgeschneiderten Pädagogik - hat sie doch den (göttlichen) Auftrag, die Menschenformung fachmännisch durchzuführen - und selbstverständlich mit einer in den Urwaldlabors entwickelten Sinn-Botschaft. Nicht nur Letztere will uns freilich bekannt vorkommen.

"Der Kampf darum, Mensch zu sein..."

Als ein Beispiel dafür, wie die gelungene "conscientizacao", die "kritische Bewußtmachung der eigenen Situation als Weg zur Befreiung" in der "Pädagogik der Unterdrückten" aussieht, zitiert Freire einen Landarbeiter aus einem "Kulturzirkel" in Chile", der gelernt hat, sich als Subjekt zu entdecken:

"In einem unserer Kulturzirkel in Chile diskutierte die Gruppe das anthropologische Konzept der Kultur. Mitten in der Diskussion sagte ein Landsrbeiter (...): 'Jetzt sehe ich, daß es ohne Menschen keine Welt gibt.' (Denn ohne Menschen) 'gäbe es ja keinen, der sagen würde, das ist eine Welt.'"

Dieser Landarbeiter kann sich dazu beglückwünschen, ein Selbstbewußtsein im Freireschen Sinn erworben zu haben. Angesichts dessen, daß er sein Leben unter den miserabelsten Bedingungen fristen muß - Grundbesitzer und Militärdiktatur sorgen mit einiger Gewalt dafür, daß er als Arbeitsvieh oder auch ohne jedes Mittel zum Lebensunterhalt dahinvegetiert - hat ihm die Freire-Pädagogik die philosophische Idee eingepflanzt, "die Welt" sei auf "den Menschen", also auch auf den allerärmsten Landarbeiter in höchstem Maße angewiesen. Daß die herrschende Gewalt in Südamerika die verarmten Volksmassen sehr großzügig verrecken läßt, scheint Freire bei der Verbreitung dieser frohen Botschaft nicht gestört zu haben.

Sein Zuspruch an die "Unterdrückten" lautet: "Die Welt ist von Menschen gemacht", und weil ihr auch Menschen seid, ist sie eure Welt, in der ihr euch "als Gestalter entdecken" sollt. Völlig abgehoben davon, welche Subjekte die Macher brasilianischer oder chilenischer Verhältnisse sind, welche Zwecke sie verfolgen und welche Rolle den "Unterdrückten" in diesen Staaten zugewiesen ist, erfindet Freire "den" Menschen als Subjekt "der" Welt, und erklärt den Armen, daß sie sich in ihrer beschissenen Lage denn auch arme Landarbeiter sind selbstverständlich Menschen - als mögliche "Mitgestalter an der Welt" betrachten sollen. Das Programm, "der" Mensch solle "die" Welt als "veränderbar" begreifen, hat nicht den Zweck, die Armut und ihre politischen Gründe, zu bekämpfen, sondern taugt einzig als billiger Trost (vor allem für Freire): die Propaganda der Lebenslüge, daß gerade die Armen keinen schlechten Stand hätten, weil ihnen unter dem Titel "ihr alle seid Menschen" die Welt gehört, ist vom Papst in Manila auch nicht schlechter in Szene gesetzt worden. Der Weihrauch, mit dem Freire seine Menschheitsideolopie versieht, besteht im übrigen aus einem Verschnitt der gesamten europäischen Philosophie, die ihn noch in der letzten Wellblechhütte anwandelt:

"Dieser Landarbeiter wolle den Gedanken zum Ausdruck bringen, daß es dann am Bewußtsein der Welt fehlen würde... Ich kann nicht existieren ohne ein Nicht-Ich. Deshalb gilt der vorhin zitierte Satz Sartres..."

"...stellt die Humanität der Unterdrücker wieder her."

Seinen Menschheitsstandpunkt entfaltet Freire sogar soweit, daß er auch die "Unterdrücker", also die Mitglieder der herrschenden Militärregierungen und ihre Chargen, in ihn einbezieht. Er lehrt die "Unterdrückten", daß alle Menschen die gleiche, "historische Berufung" hätten, "ein vollkommener Mensch zu sein". Das gilt auch für die Machthaber: "Ihr Ideal ist es, Mensch zu sein. Aber für sie heißt Mensch sein: Unterdrücker sein." Der hier zur Anwendung gebrachte Humanitätsgedanke beinhaltet die Ungeheuerlichkeit, für Herrscher und Opfer "als Menschen" ein, im Grunde gleiches Lebensziel zu erfinden. Obwohl Freire zugesteht, daß an den Taten der "Unterdrücker" keine Spur von diesem gemeinsamen Ideal zu entdecken ist, hält er es fanatisch als "Berufung" aller Menschen hoch. Eigentlich streben die Herrscher ja nach allgemeiner Menschlichkeit; sie sind nur deshalb auf das Gegenteil, aufs Herrschen und Ausbeuten gekommen, weil sie sich eine andere Vorstellung von "Vollkommenheit" gemacht haben als ihre Opfer. Nobody is perfect - auch Gewaltherrscher sind bloß Menschen, lautet das entschuldigende Urteil. Doch damit nicht genug. Freire steigert sein Verständnis für den im "Unterdrücker" verborgenen guten Menschen bis zu der Konsequenz, daß er die Ausübung von Gewalt, die diese Figuren zu ihrem bevorzugten Geschäft machen, gar nicht mehr als ihre Tätigkeit ansieht, sondern als eine "Situation der Unterdrückung", unter der auch sie zu leiden hätten:

"Die Situation der Unterdrücker ist eine enthumanisierte und enthumanisierende Totalität (!), die auf die Unterdrücker ebenso (!) wirkt wie auf die von ihnen Unterdrückten."

Die Offensichtlichkeit, mit der ein brasilianischer Diktator und seine Mafia die Macht zu ihrem persönlichen Anliegen machen und es genießen, mit allen Mitteln der Gewalt ausgestattet zu sein, hält Freire nicht davon ab, den Willen zu und den Nutzen aus ihrem Geschäft in ihre gescheiterte Humanität umzulügen.

Das Ideal der Befreiung, das Freire immer wieder im Munde führt, beinhaltet die wahrhaft pfäffische Vorstellung, daß die Unterdrückten für die Menschheit - für sich und für ihre Machthaber - eine "Situation" herstellen sollen, in der es möglich ist, "noch vollkommener Mensch zu sein". Passend dazu wird der "Dialog" als Vehikel dieser Befreiungsidee empfohlen, in dem die "Unterdrückten" mit "Hoffnung", "Demut", "Liebe" und "Glauben am die Menschheit" vorführen, daß sie zur Versöhnung bereit sind. Wie man durch (Urwald-)Pädagogik zum "wahren Menschen" wird - dafür eim Beispiel: Alphabetisierung von Plantagenarbeitern.

Schritt 1: Anknüpfen an den Interessen der Schüler. Ein Spruch, der in seinem wörtlichen Sinn nur als banal zu bezeichnen ist. Natürlich muß man von etwas dem Schüler Bekanntem aus-, dann aber davon weggehem. Der Schüler soll schließlich etwas dazulernen. Ganz anders das pädagogische Verständnis dieses Spruchs, und besonders im Sinne Freires: Anknüpfen heißt hier, zunächst in Zusammenarbeit mit Soziologen (schwierig, schwierig?) eine Sammlung von sogenannten Schlüsselwörtern, die eine besondere Rolle im Leben der Dorfbewohner spielen herstellen und über sie mit den Teilnehmern der Unterrichtsgruppe eine Diskussion anzetteln. Ungezwungen ließen die Baumwollpflücker zum Stichwort Haus zunächst ihren Frust ab: Zwar sei man seit einiger Zeit nicht mehr Arbeiter auf privatem Grundbesitz, sondern bei einer Cooperative, habe jedoch nach wie vor kein oder nur ein miserables Dach über dem Kopf und fordere deshalb von der Verwaltung neue Häuser. Und nun ging das einfühlsame, jegliche Schülerbevormundung strikt vermeidende Geschäft der Lehrerschüler so richtig los.

Schritt 2: Wer denn die Häuser bauen solle, der Plantagenverwalter vielleicht? Oder bezahlte Arbeiter? Woher denn das Geld nehmen? Schließlich gehöre die Plantage als Cooperative ihnen, den Plantagenarbeitern, doch irgendwie (!) auch, und sie hättea für so was doch wohl kein Geld über, oder? Ob man sich denn überhaupt so einfach aus jeglicher Mitverantwortung und jeglichem Engagement stehlen dürfe? Und, na bitte, ein aufgeweckter Analphabet - (der er immer noch war, weil Lesen und Schreiben in diesem Alphabetisierungskurs noch gar nicht vorgekommen waren) - kam auf den Trichter: Selbermachen! Nach der Feldarbeit. Mit ganz viel Eigenverantwortlichkeit und möglichst vielen eigenen Mitteln! Und schon hatten noch ein paar andere begriffen, wie man sein enthumanisiertes Selbst los wird. Sie waren einsichtig genug, einer Frau, die immer noch behauptete, dieser Vorschlag tauge nichts, weil man nach der Arbeit schließlich kaputt sei und die Cooperative doch genug an ihnen verdiene, um für sie ein paar Hütten hinzustellen, - um dieser Frau mangelnde Solidarität vorzuhalten.

Schritt 3: Das Wort casa wird an die Tafel gemalt, in Silben zerlegt und von den Arbeitern ziemlich mäßig nachgemalt, so daß man an den Lese- und Schreibkünsten der Teilnehmer nach Abschluß des Kurses schwere Zweifel haben muß. Aber was macht das schon, wenn Dorf- oder Slumbewohner sich am Ende des Kurses so zufrieden äußern, wie dieser, der sein naives Verständnis des Wortes favela-Slum offenkundig erfolgreich besiegt hat und dafür von Freire gefeiert wird:

"Ein Straßenkehrer aus Brasilia sagte: 'Morgen tue ich meine Arbeit mit erhobenem Kopf.' Er hatte den Wert seiner Person entdeckt."

Wenn das kein Akt der Befreiung ist, auf den ein Pädagoge stolz sein kann!

"Kulturelle Impulse aus der Dritten Welt"

Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Freire die Vorstellung einer Unterrichtsform propagiert hat, in der die Bildungsarbeit ihre Berechtigung "in ihrem Drang nach Versöhnung" hat: "Die Bildungsarbeit muß einsetzen bei der Lösung des Lehrer- Schüler- Widerspruchs". Die obskure Wortschöpfung einer "Bankiers-Erziehung" (soll heißen: Lehrer machen "Wissens-Einlagen" in den Schülerköpfen, Schüler werden dadurch zu "Containern gemacht, die vom Lehrer gefüllt werden", und darin besteht die "Degradierung" der Schüler zu "Objekten") erfreut sich allerdings bei bundesrepublikanischen Pädagogen großer Beliebtheit. Um die Ideale einer "selbstbestimmten", "schülerorientierten" Erziehung gut zu finden, hat sicher niemand den Freire zur Kenntnis nehmen müssen.

Aber Brasilianos, Alphabetisierung und ein vom Militärgericht wegen demokratischer Ideale verhafteter Freire können dem hiesigen Pädagogiker-Bewußtsein dazu dienen, die Bedeutsamkeit der eigenen Ideale mit einem exotischen Zeugen zu belegen. Dafür merkt man sich gerne den Spruch von der "Bankiers-Erziehung" - oder "wendet Freire auf uns an": Die ungeheure Bedeutung der Pädagogik, die doch gar nichts anderes will, als den Menschen um Gottes Willen nicht zu "bevormunden" - eigentlich könnte sie es doch endlich mal bleiben lassen, oder! -, bebildert sich doch wunderhübsch mit südamerikanischer Folklore. Diese nickenden Sarotti-Männchen, wo man früher Zehnerl für die Missionierung der Heiden hineinwerfen mußte, sind doch nichts gegen das demütig-stolze Gefühl, nun seinerseits Beschenkter zu sein - Re-Export nach Sinnveredelung.