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Frankreich
DAS VOLK FÜR DIE MACHT GESAMMELT
Jeder französische Präsident kennt schon im Frieden keine Parteien, sondern nur Franzosen. Daß diese Franzosen auch einen Herrn Mitterrand für fähig halten, nur noch-Franzosen zu kennen und ihn mit der nötigen Macht ausstatten, muß dieser erst mal bewerkstelligen. Und das geht auch in Frankreich nicht ohne die Mitwirkung der Parteien. Ein schwieriges Problem, über dem man leicht 64 wird und es erst im dritten Anlauf schafft.
Genau umgekehrt verhält es sich übrigens in der BRD. Da kann man schon mit 50 Kanzler werden, wenn man der Partei angehört, die gerade mit dem Regieren dran ist, deren Fraktion davon überzeugt, daß man der richtige Mann ist, weil man über eine Persönlichkeit verfügt, mit der sich das Volk überzeugen läßt, auf die Partei des Kanzlers zu setzen, um mit der Wahl zu garantieren, daß allen Deutschen die Führungsqualitäten eines Machers namens Helmut Schmidt erhalten bleiben.
Sammlung für eine Mehrheit
Ein französischer Staatspräsident ist nicht einfach ein sozialistischer, gaullistischer oder sonst ein Kandidat, der für seine Partei eine Wahl gewinnt und dann die Macht im Staate ausübt. Ein französischer Staatspräsident der V. Republik sammelt das ganze Volk um sich, steht einem "rassemblement" vor und ist Präsident aller Franzosen, sobald mehr als 50% für ihn sind - und das ist schließlich mehr als nur Mehrheit. Das Volk mit seiner Mehrheit hinter dem Präsidenten gesammelt - den es gleich in zwei Wahlgängen wählen darf, damit auch die, die beim ersten Mal ihre Stimme nach Parteizugehörigkeit vergeben haben, noch eine Chance haben und sich hinter einem aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten sammeln können - dies ist eine Erfindung des Generals de Gaulle und hat den alten Parteien der IV. Republik erst einmal das Wasser abgegraben. Vornehmlich denen auf der Linken, weil de Gaulle seine Bewegung aus den heroischen Zeiten Frankreichs zweckmäßigerweise 1958 in die neue V. Republik mitbrachte und weil sich ein Kandidat für das höchste Amt im Staat, der sich auf eine Partei stützt und eventuell noch dazu auf eine kommunistische, vor der Mehrheit der französischen Wählerschaft blamiert, die einen Präsidenten aller Franzosen zur Auswahl hat.
Man braucht daher gar nicht in der richtigen Partei Karriere gemacht zu haben, um der Macht näher zu kommen; umgekehrt: Der berufene Politiker fängt das Sammeln von Volk an, macht genügend Franzosen klar, daß de Gaulle, Giscard, Mitterrand bzw. der Gaullismus, Giscardismus oder der Mitterrandismus zum Besten der Nation sind und schafft sich z u diesem Zwecke eine Partei. Und es ist sogar von Vorteil, wenn man darin nicht allzusehr an einer bestimmten Partei klebt, sondern für das rassemblement von Politikern und Stimmen offen und fähig ist. Parteienwechsel und -schwenks sind daher keine Schande.
Mitterrand - zunächst über den "permanenten Staatsstreich de Gaulles verbittert" - wußte das ur-französische Prinzip des "rassemblement du peuple" für sich zu nutzen und gegen die gaullistischen Urheber zu wenden. Anstatt die Forderung nach einer Verfassungsreform und einer Abschaffung der besonderen Stellung des Staatspräsidenten unnötig breitzutreten, hat sich dieser Mann beizeiten um das eigene, alternative rassemblement bemüht. Seit seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 1965 baute er sich systematisch als Gegenkandidat zu de Gaulle und seinen Nachfolgern auf und beschloß deshalb, die Linke Frankreichs als Alternative und sich als den Gegenkandidaten aufzubauen. Ganz zurecht nennt er sich daher den Schöpfer der Linken, deren wichtigste Sorge ebenso folgerichtig der Machtwechsel im Elysee-Palast ist.
Nun hat die linke Bewegung für einen Präsidentschaftskandidaten für d iesen Kandidaten das "Problem", daß 1/5 bis 1/4 der Wähler sich zu einer richtigen "Weltanschauungspartei" - nicht bloß zu einer Machtanschauungspartei - hingezogen fühlen, die zu allem Unglück auch noch kommunistisch ist. So sehr Mitterrand als alternativer Sammler auf die Stimmen dieser Wähler angewiesen ist, so sehr stört ihn die dazugehörige Partei.
In der Absicht, der PCF den Rang als stärkste Partei des linken Spektrums abzulaufen, vereinigte Mitterrand 1971 mehrere linke Kleinparteien, die sich in ihrer Gegnerschaft zu den Kommunisten einig waren, zur Sozialistischen Partei (PS).
Mitterrand hielt sich mit seiner neuen Partei an die unbedingte Devise, seine Linke dadurch zur neuen majorite Frankreichs zu machen, daß er die PS auf Kosten der PCF vergrößerte, wodurch er der Linken, indem er sie zu seiner Linken machte, den Anschein von Systemfeindlichkeit nahm.
Demselben Zweck diente das 1972 abgeschlossene programme comun mit der - damals noch weitaus stärkeren - PCF: Mitterrand profilierte sich gegenüber der PCF und sicherte sich gleichzeitig die Stimmen von deren Wählern. Der Witz dieses "Volksfront"-Bündnisses wird in dem Moment klar, wo das programme comun angeblich scheitert und die daraufhin einsetzende Konfrontation PS-PCF mit dem Erfolg Mitterrands zusammentrifft.
Die Stimmen der kommunistischan Ex-Wähler erhielt Mitterand nun, weil er einen linken Machtwechsel greifbar machte und weil sich ein PC'ler davon 17 günstige Bedingungen ausrechnet; und seine Wählerschaft konnte er nach rechts erweitern, weil er sich von den Kommunisten absetzte und so einen Machtwechsel ohne die kommunistische Partei möglich machte.
Das beabsichtigte Resultat dieser "historischen" Leistung: Eine Sammlungsbewegung der Linken, die eine majorite von 52% auf die Beine bringt, für Frankreich die "historische" Wende schafft, eine rechte Volksbewegung mit einer linken zu kontern, wodurch nach den Worten des neuen Präsidenten nun endlich die politische der gesellschaftlichen Mehrheit entspricht. Insofern: Präsident aller Franzosen.
Die Partei der neuen Mehrheit
Mit "Sammlungen" und "historischen Wenden" allein wird auch von einem französischen Volkspräsidenten nicht regiert. Es gibt den Volkswillen ja auch noch in Form eines Parlaments neben dem Präsidenten. Weil dieser nun schon gewählt ist und zwar unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, steigt er jetzt auch nicht in große Koalitionsverhandlungen ein. Hinter Mitterrand steht schließlich die neue Mehrheit; daher wird der alte Volkswille erstmal nach Hause geschickt; im zweiten Teil der Konstruktion der neuen Macht werden Parlamentswahlen angesetzt.
Dazu ergeht die Aufforderung an die Wähler, nun für zwei weitere Wahlgänge (womit man insgesamt viermal sein demokratisches Placet zum Machtwechsel abgeben darf) den schon bekundeten politischen Willen ins Parlament hinein zu verlängern. Somit steht die Neuformierung der Parteienlandschaft im Sinne der neuen majorite an. Eine Aufgabe, mit der sich der neue Präsident nicht mehr selbst abgeben muß - er steht jetzt über solchen Fragen -, was seiner Mannschaft gleich noch ein paar Pluspunkte einbringt. Im zweiten Akt der Machtkonstruktion für die neue Mehrheit steht der Held in den Kulissen, nicht ohne durch gezielte Maßnahmen und Entscheidungen den Seinen günstige Bedingungen zu verschaffen.
So verspricht er 200000 neue Arbeitsplätze im Staatsdienst und erhöht den gesetzlichen Mindestlohn um sage und schreibe 200 Francs, was nicht nur die Stimmen der rund 800000 davon Begünstigten der Linken sichert, sondern darüberhinaus der PC gegenüber ihrer proletarischen Klientel recht gibt, daß sich die Unterstützung Mitterrand gelohnt hat und der ganzen Nation demonstriert, wie sehr dieser Mann seine Versprechen uor der Wahl hinterher einhält. Und bis zum Wahltag wird es der Inflation nicht gelingen, dieses kleine Geschenk zur Erhaltung der Freundschaft aufzufressen.
Die Freunde von Natur und Umwelt werden den Baustop für das AKW Plogoff in der Bretagne schon zu würdigen wissen und den Freundeskreis Mitterrands vergrößern, auch wenn er ausländischen Kernkraftwerksgegnern die Einreise verweigert.
Den Kern der neuen Mannschaft im Parlament bildet die PS, die ab sofort als Partei des Herrn Staatspräsidenten auftritt und die Verdoppelung oder Verdreifachung ihrer Parlamentssitze als einfache Konsequenz des Erfolgs Mitterrands betrachtet. Mit der dazu nötigen Arroganz schlachtet sie ihre Nähe zur Macht aus: "Die Sozialisten sind stark... man muß den Mut haben, seine Stärke zu bezähmen." (Parteisekretär Jospin) und stellt kokette Überlegungen zur Unmöglichkeit einer absoluten PS-Mehrheit an. Die beiden "Gefahren" für die PS, daß Mitterrand-Wähler zur PCF oder zu Chirac zurückkehren, hat sie mittels der "dynamique presidentelle" im Griff - der Erfolg des Präsidenten zählt als selbstverständliche Garantie für die Wahl seiner Partei.
Daneben betreibt die PS die Verbreiterung ihres Spektrums nach Rechts in Richtung bürgerliche Radikale (die in Frankreich Linksradikale heißen) bis zur Bildung eines neuen "linken Zentrums", das die PS gerne sähe, aber nicht selber gründen kann, was sie solange herumerzählt, bis irgendein ausgemusterter Minister aus den Zeiten Pompidous oder Giscards den Tip aufgreift und ein solches Zentrum gründet: "...Michel Jobert könnte da eine Rolle spielen." (wieder Jospin)
Welches Spektrum Mitterrand als Wählerschaft für sein neues Parlament erwartet, gibt er durch die Zusammenstellung seiner ersten Ministerrunde bekannt. Bis zum zweiten Wahlgang am 21. Juni besteht die Funktion dieser Herrschaften vornehmlich darin, daß keine Kommunisten, viele gemäßigte, sieben Schattierungen von Sozialisten und sogar unabhängige Gaullisten darunter sind, wobei die Unabhängigkeit der letzteren darin besteht auch unter Mitterrand ein Amt zu übernehmen. Alle diese Minister - die gleich zeigen, was sie können und munter losregieren - sind ab sofort Indizes für die Breite und Position des Mitterrandschen rassemblements, was ihnen ihr Chef bei der ersten Sitzung mißverständlich klarmacht:
"Ihre Anwesenheit verweist auf eine grße politische Veränderung, für die wir dem Land verantwortlich sind. ... Sie haben aufgehört Repräsentanten Ihrer Parteien zu sein, Sie sind Repräsentanten Frankreichs. ... Die Regierung braucht eine starke Mehrheit, um die französische Politik zu führen. Wir haben ein historisches Werk zu vollenden." (Le Monde 19.5.)
Die Anwesenden verdanken ihre Anwesenheit natürlich der großen Veränderung von Giscard zu Mitterrand, aber weil sie auch Repräsentanten von Parteien sind, auf deren Mitwirkung beim Geschichtemachen Mitterrand aus ist, will er ausgerechnet mit ihnen Frankreich repräsentieren.
Die Partei der verhinderten Mehrheit
Eine derartige Benützung der wählenden Gefolgschaft würde auch der PCF ins Konzept passen, die, ohne gefragt zu werden, täglich ihre Gesprächs- und Kompromißbereitschaft signalisiert. Die Stimmen der potentiellen PCF-Gefolgschaft sind jedoch in Zweifelsfällen im zweiten Wahlgang der Linken Mitterrands ohnehin sicher, weil die PCF es ja nicht versäumt hat, ihr Publikum davon zu überzeugen, daß der ablaufende Machtwechsel nur positiv ist und daß der Sieg Mitterrands eigentlich auch einer seiner Gegnerin PCF wäre, so daß man als ehemaliger PCF-Wähler die "Historische Chance" nicht in der dritten und vierten Runde vermasseln will.
Weil jeder Tritt in Richtung PCF dort keine Stimmen kostet und gleichzeitig den Freundeskreis der PS auf der anderen Seite kräftigt, ist mit der PCF ein ganz spezieller Umgang angebracht, der zu dem Gesprächsthema der Zeit zwischen den Wahlen aufsteigt.
Weil sich ein Präsident mit solch Parteienhader wieder nicht befassen möchte, betont sein Parteisekretär Jospin, daß Verhandlungen über eine künftige Regierungsbeteiligung natürlich auch mit der PCF geführt werden. Nach diesem unverschämten Schulterklopfen wird es ernst: Der Herr Sekretär betont, daß man "nicht ernsthaft eine Regierung mit Leuten bilden kann, die sich nicht über die wichtigsten Punkte verständigt haben": "Il ne peut pas y avoir deux politiques dans un gorvernement." (Le Monde, 29.5.)
Wenn die PCF also überhaupt mitmachen darf, dann natürlich nur, wo sie garantiert keinen "Schaden" anrichten kann, ein Kriterium, das sie schon selbst akzeptiert hat, auch wenn es von da aus schwerfällt, überhaupt eine geeignete Stelle zu finden, weil für einen ordentlichen Antikommunisten ein Kommunist überall Schaden anrichtet (wie wäre es mit dem Posten eines Vize-Staatssekretärs ohne Ressorts?); dann soll sie aufhören, es als kommunistische Partei zu machen und den "neuen Ton", den die PS gönnerhaft seit dem ersten Wahlgang feststellt, auf Dauer pflegen, sich also jegliche Kritik an der PS und ihrem Star abschminken. Das den Kommunisten präsentierte fiktive Ultimatum, daß die PS Politik macht und die PC Kabinettsdisziplin betreiben darf, akzeptiert diese unter der Bedingung, daß man nicht "von uns verlangt, Sozialisten zu werden", ergänzt um den die Machtverhältnisse überspielenden Hinweis, daß man von den Sozialisten auch nicht verlange, Kommunisten zu werden. So ist die PCF auch in der Phase des französischen Machtwechsels, wo die Parteien auf ihre Brauchbarkeit für die neue Führung geprüft werden, bereit, sich mit historischem Opportunismus "der Linken" Mitterrands anzuhängen, um ihre historische Rolle ohne Rüicksicht auf die ihr als Stimmvieh ans Herz gewachsene Arbeiterklasse zu spielen. Und was macht die PCF, wenn sie nach den Parlamentswahlen nicht in der Regierung sitzt? "Die positiven Maßnahmen der Regierung unterstützen" - das ist ein Angebot!
Die Parteien der neuen neuen Mehrheit
"Die Linke" tut also ihre nationale Pflicht für Mitterrand so gründlich und zuverlässig, daß die Rechte kein allzu großes Problem für die Abrundung des Machtwechsels darstellt. Der Idee einer Sammlungsbewegung des ganzen Volkes stehen die rechten Parteien UDF und RPR aufgeschlossen gegenüber - vorausgesetzt, es ist einer der ihren, um den das Volk gesammelt wird. Aber an der Mehrheit gibt es nichts zu rütteln und die "Kompensation der linken Regierung", die sich Chirac vom Parlament künftig erwartet, ist eben keine Kompensation dafür, daß die geliebte Macht im Staat nun einer vom anderen Lager ausübt; denn daran ändert dank gaullistischer Verfassung auch das neue Parlament nichts. Insofern sind die Parlamentswahlen eine gute Gelegenheit, auch das rechte Lager neu zu ordnen. Wer da den Beleidigten und Erniedrigten spielt und sich wie Giscard über den "vorsätzlichen Verrat" Chiracs beklagt, wandert schnell auf den Abfall der Geschichte.
Weil nämlich so viel Historisches mit einer majorite anzufangen ist, sind die Rechten auf einen historischen Einfall gekommen: sie setzen sich zu einer "Union pour la nouvelle majorite" zusammen - kaum ist das französische Volk zu einer neuen Mehrheit vereinigt, vereinigt es irgendwer schon wieder zu einer noch neueren Mehrheit. Ein umwerfender Einfall, der garantiert, daß ein Machtwechsel in Frankreich nicht die Politik durcheinanderbringt.
Nur scheinbar macht man es sich in der BRD einfacher, wo die Parteien, die hinterher gemeinsam die Regierung bilden bzw. unterstützen, erst nach den Wahlen entweder die alte Regierungsmehrheit fortsetzen oder in Koalitionsverhandlungen eine neue bilden. Man spart dabei bestenfalls einen Wahlgang. Solange jedenfalls den französischen Ingenieuren der Macht genügend Volk zur Verfügung steht, das von so viel Berücksichtigung auch noch begeistert ist: 35 Millionen erwachsene Franzosen beträgt die Manövriermasse für die versammelten nationalen Aufbruchspolitiker.