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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1981 erschienen.

Systematik

Großbritannien
NATIONALER SOZIALISMUS AUF DEM LABOUR-PARTEITAG

"Die Labour-Regierung damals war besser als Thatcher, und sie wäre auch jetzt besser als Thatcher." (Tony Benn)

Wenn demokratische Staaten es so weit gebracht haben, daß Regierungswechsel reibungslos über die Bühne gehen, indem sie als "Wechselspiel von Regierung und Opposition" zur Selbstverständlichkeit werden, dann wird dem Bürger diese Fähigkeit zur Abstraktion von den eigenen Interessen und die Willensbekundung, im Wahlakt einer der gebotenen Alternativen des nationalen Interesses zuzustimmen, das Prädikat der "politischen Reife" attestiert. In funktionierenden Demokratien sucht die Opposition darüber Punkte zu machen, daß sie der Regierung vorwirft, die von ihr exekutierten Staatsnotwendigkeiten mangelhaft zu realisieren, selbst verspricht, eben dieses politische Geschäft viel besser zu verstehen und sich so als getreues, aber eben umgekehrtes Spiegelbild der gerade mit der politischen Herrschaft betrauten Figuren präsentiert.

Wie dieses Spiegelbild auszusehen hat, darüber ist auf dem Parteitag von Labour heftig gestritten worden. Um die Interessen der arbeitenden bzw. von Arbeit freigesetzten Klasse Großbritanniens ging es dabei freilich nicht. Schließlich stand viel Höheres auf dem Spiel, nämlich die ganze Nation, die den Bach hinunterzugehen drohe, wie Parteiführer Michael Foot zur kämpferischen Einstimmung des Kongresses feststellte:

"Mrs. Thatcher und ihre Regierung haben dieses Land in die größte industrielle Katastrophe gebracht, die die Nation jemals gekannt hat... Sir Jan Gilmor hat gesagt, daß sie auf die Felsen zutreibt, aber unglücklicherweise wird das Land von ihr dabei mitgezogen. Noch niemals zuvor hat Großbritannien so dringend eine Labour-Regierung benötigt."

Zum Buhmann der britischen und vor allem der Presse hierzulande geriet dabei der "linksradikale Flügelmann" Tony Benn. Dies keineswegs deshalb, weil der ehemalige Lord Wedgwood von irgendjemandem ernsthaft als Motor der proletarischen Revolution auf der Insel gefürchtet würde, sondern weil er das Erscheinungsbild eines Parteitags wesentlich mitbestimmte, der sich nicht einig war, wie radikal der alternative Nationalismus auftreten soll, den Labour der Tory-Konkurrenz entgegenzusetzen hat.

Demonstrativer Radikalismus

Zur "Rettung Englands" hat die amtierende Premierministerin der Mehrzahl der Engländer sinkende Löhne, steigende Abgaben und dreieinhalb Millionen Arbeitslose verschrieben - eine bittere Medizin, die von den so Gepflegten murrend, aber ohne Widerstand geschluckt wird. Zur wahren Rettung entwirft Tony Benn ein Programm, das nicht die Absetzung der bisherigen, sondern eine Reihe (vier Hauptpunkte) zusätzlicher Maßnahmen verspricht, die allesamt nichts anderes sind als Bedingungen dafür, daß eine künftige englische Regierung so richtig englisch regieren kann, eine Qualität, die er in der Vergangenheit nicht entdecken will. Deshalb wird Benn auch nicht müde zu betonen, daß es mit der Tradition von Labourkabinetten - denen er selbst angehört hatte -, Parteitagsbeschlüsse zu ignorieren, ein Ende haben müsse. Die Hauptpunkte von Benns Programm zeichnen sich darum zuerst einmal auch dadurch aus, daß sie alles, womit Tory- wie Labour-Regierungen seit 1945 Politik gemacht haben, in lauter Hindernisse für eine eigentliche Arbeiterpolitik (= eine optimale Mobilisierung der Arbeiter für Labour-Politik im nationalen Interesse) verwandelt:

"Zunächst müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß das, was Labour übernimmt, wenn sie eine große parlamentarische Mehrheit hat, weit davon entfernt ist, wirkliche Macht zu sein. Im demokratischen Britannien dürfen die Bürger nur das halbe Parlament wählen. Die andere Hälfte ist das House of Lords, das, wie alle Labour-Regierungen wissen, versuchen würde, sie abzusägen, falls sie jemals versuchen würden, wirkliche sozialistische Politik zu machen."

Zweifellos empört die zahnlose Meute adeliger Greise nichts so sehr wie die Verkündigung von Verstaatlichungen oder gar Staatsausgaben "for the poors". Ihre Versuche zur Boykottierung gleich welcher Politik auch immer, müßten sie jedoch auf den Versuch beschränken, weil sie Beschlüsse des House of Commons durch ihr Veto maximal ein Jahr lang aufschieben, aber nie verhindern können. Wenn mit der Forderung nach der Abschaffung des Oberhauses auch keiner Labour-Regierung, geschweige denn einem Bürger gedient ist, ein gewaltiger Angriff auf "altehrwürdige britische Traditionen" ist es schon - und damit die Zurschaustellung des energischen Willens zur radikalen Neuorientierung der Politik. Benn kalkuliert damit, daß die Schafsgeduld, mit der sich die britischen Proleten mittlerweile ihre Verelendung aufherrschen lassen, noch lange nicht heißt, daß sie sie auch begrüßen und daß sich durch Angriffe auf den "Hort des Konservativismus" Punkte für Labour machen lassen. Allerdings beinhaltet dieser erste, scheinbar lächerliche Programmpunkt schon Benns höchstes Anliegen: Gerade weil die amtierende Regierung ihr Programm souverän und rücksichtslos gegen das Volk durchsetzt, verspricht er, sie in Sachen Souveränität auf alle Fälle zu übertreffen und verwandelt die Freiheit der Konservativen gegenüber dem Wahlvolk wie auch die Unabhängigkeit von Labour-Regierungen in Hörigkeit und Knechtschaft gegenüber den Lords.

Buy british, work british!

Daß die EG kein Verein zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse ist, haben die Briten seit dem Eintritt Großbritanniens in die Gemeinschaft täglich zu spüren bekommen in Form ständig steigender Lebensmittelpreise. So einfach macht es sich jedoch ein gewachsener Staatsmann nicht, auch wenn er sich in der Opposition befindet. Er entdeckt daran einen wesentlichen, ganz anderen Mangel:

"Der britische Eintritt in die EG 1973 nahm dem Unterhaus die Macht, Gesetze zu geben, wenn Labour das nächste Mal eine Mehrheit im Unterhaus gewinnt, werden wir in der Lage sein, jedes einzelne Gesetz abzuschaffen, das die Tories gemacht haben. Aber wir werden nicht ein einziges Gesetz abschaffen können aus der EG-Gesetzgebung, dem die gegenwärtige Tory-Regierung in Europa zugestimmt hat, denn die Rücknahme solcher Gesetze ist nicht vorgesehen außer bei Einstimmigkeit des EG-Ministerrates."

Die Bestimmung der Römischen Verträge, die Benn hier anprangert, beinhaltet genau das Gegenteil dessen, worauf es ihm ankommt. Denn wenn ein Beschluß nicht gegen den Willen eines einzelnen Staates gefaßt werden kann, dann ist darin seine Souveränität eben berücksichtigt und die Verwandlung Großbritanniens von einem berechnenden und erpressenden Mitmischer in ein Opfer der EG-Behörden in Brüssel, das in ferner Zukunft vielleicht gar durch eine EG-Streitmacht zur Einhaltung inselfeindlicher Beschlüsse gezwungen werden könnte, ein schlechter Witz.

So nützt der alte Wedgwood die Invasionsängste der Briten und macht aus einer fürs Kapital profitablen Angelegenheit eine Frage nationaler Selbstbestimmung, weil er das Bundnis an sich schon als Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des britischen Staates betrachten will und von daher jeden Akt britischer Erpressung beim Aushandeln eines Kompromisses zur Schwäche der britischen Regierung erklärt. Wo Margret Thatcher nein sagt, um ein Ergebnis zu erzwingen, zu dem sie ihr britisches Ja geben kann, drechselt Benn ein von der EG gewürgtes Britannien, dessen wahre Freiheit nur durch ein grundsätzliches Nein zum europäischen Wirtschaftsbündnis gewährleistet sei. Der Witz daran ist, daß er jede Beziehung, die Großbritannien oder auch sein Kapital selbst für das Geschäft und den politischen Erfolg knüpfen, als Ausdruck des Mißerfolgs behandelt und mit dem Ideal der politischen Unabhängigkeit versieht. Deshalb würde er am liebsten alle Bündnisse aufkündigen - ein Standpunkt, mit dem man auch m Bündnis durchaus erfolgreich agieren kann:

"Eine dritte Bedrohung für unsere Demokratie kommt vom internationalen Kapital, den Multis und dem IMF, der der Labour-Regierung 1976 Kürzungen der öffentlichen Ausgaben diktierte. Die Macht des internationalen Kapitals ist viel größer ais die unseres heimischen Kapitals von dem die Arbeiterbewegung das britische VoUk vom Augenblick ihrer Gründung zu befreien versucht hat."

Das Interesse der damaligen Labour-Regierung am IMF, nämlich die Absicherung des Pfundkurses durch Kreditierung seitens des IMF, muß man schon unterschlagen, wenn man den gemeinsamen Währungsfonds als eine das Inselvolk knechtende ausländische Macht hinstellen will. Im übrigen sind Beschimpfungen des internationalen Kapitals immer schon unter Ausschluß des nationalen Kapitals erfolgt, eben weil sie an dessen Agieren nur den Mangel feststellen, daß es nationaler Kontrolle nicht unterworfen ist. Die Verharmlosung des nationalen Kapitals mutet besonders grotesk an, wenn man weiß, daß britisches Kapital sich - wie sonst nur noch das amerikanische - beinahe mehr auf dem Welt- als auf dem "heimischen" Markt tummelt. Daran kann man nicht nur sehen, daß leider nur das Kapital kein Vaterland kennt, wie es sich überhaupt um die Ideale, die seinetwegen erfunden wurden, noch am allerwenigsten schert, sondern vor allem auch, daß solche Ideale - und Benns Kritik gehört dazu - ihre Grundlage eben in den Verhältnissen haben, denen sie vorgehalten werden. Oder anders: Benns Kritik am internationalen Kapital gedeiht auf dem Internationalismus des britischen Kapitals, das er gegen die Welt in Schutz nehmen und zur "Macht" ins "Gleichgewicht" bringen möchte:

"Wir glauben in der Tat, daß die Nation nur dann ihren Lebensunterhalt wirksam und profitabel verdienen kann, wenn es ein neues Gleichgewicht des Reichtums und der Macht gibt zugunsten der arbeitenden Menschen." (Benn, Arguments for Socialism)

Das sind "Arguments for Socialism", auf die die Arbeiterklasse schon lange gewartet hat.

Fight british!

Es hätte keines weiteren Hauptpunktes bedurft, um zu merken, daß dieser englische Sozi den weltweiten Aufschwung des Nationalismus frühzeitg mitgekriegt und mit seinem Programm den linken Labourflügel auf den Kurs eines alternativen und deshalb kritischen Nationalismus getrimmt hat. Alte Debatten über Ausbeutung sind so ersetzt worden durch solche über Auf- oder Untergang der Nation - und die lassen sich ebenso hitzig führen wie die alten aber dieser Ersatz macht den letzten Hauptpunkt eben notwendig:

"Schließlich hat das britische Volk nun auch die Autorität verloren, die es einst durch das Parlament hatte, nämlich die Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden. Diese Macht ist nun auf unseren amerikansichea Verbündeten übergegangen, die auf britischea Luftstützpunkten nukleare Waffen unterhalten, die sie ohne ausdrückliche Zustimmung einer gewählten britischen Regierung einsetzen können."

Daß die arbeitenden Briten immer schon ein Gutteil ihrer Arbeit direkt im Kriegsministerium haben abliefern müssen, um die weltweite Präsenz des britischen Imperialismus finanziell zu gewährleisten, könnte einen ja auf den Gedanken bringen, daß die Sonderopfer, die das englische Proletariat in den letzten Jahren laufend brachte, den "Notwendigkeiten der nationalen Verteidigung" geschuldet sind.

Die Freiheit der gewählten britischen Regierung bestand gerade darin, als erster europäischer Staat den erklärten Willen der USA zur rücksichtslosen Bekämpfung der SU begeistert zu begrüßen, und die Drohung der Lady den Russen werde es schlimmer ergehen als 1941, stieß in England nicht auf Kritik. Ganz als sähe er in der gegenwärtigen Weltlage die Chance, das leicht ramponierte britische Image wieder aufzupolieren, bedeutet Benn den Amis, daß unter einer Labour-Regierung die Zustimmung nicht so leicht zu haben wäre, und möchte so Englands Interessen gegenüber den USA erneut und verstärkt in die Weltpolitik einbringen. So ist sich der "Unilateralismus" der englischen Friedensbewegung, den die Labourlinke für sich reklamiert, der Notwendigkeit der Verteidigung des Vaterlandes gegen die äußere Bedrohung so sicher, daß er sie wirklich ganz souverän, genuin britisch beschließen und eine so wichtige nationale Angelegenheit nicht in fremden Händen sehen will. Wofür Verteidigung gut sein soll, will er selbst entschieden haben:

"Ich fordere Sie auf, heutzutage um die Welt zu fahren und herauszufinden, wieviele Menschen ihr Leben gäben für das Recht, das zu tun, was wir tun können, nämlich unsere Regierung zu entlassen, wenn es zu einer allgemeinen Wahl kommt."

Für das Recht, gewählt zu werden, hielte zweifellos auch Benn den Verteidigungsfall für gegeben - gegen wen, ist nicht schwer zu erraten.

Beschlüsse für den Wahlsieg

Der Parteitag hat Benns Hauptpunkte richtig verstanden: als Beitrag zum nächsten Wahlsieg. Und deshalb hat er sie mit überwältigender Mehrheit verabschiedet und mit der Wahl Healeys, der von vorneherein erklärt hatte, als Kabinettsmitglied keinen dieser Beschlüsse in die Tat umzusetzen, für einen Vizeparteivorsitzenden gesorgt, der dem gemäßigten Wähler ein Labourkabinett nach seinem Geschmack offeriert. Auch der Versuch, das Schattenkabinett bei der Ausarbeitung des Parteiprogramms an Parteitagsbeschlüsse zu binden, wurde gleich doppelt unterbunden: Erstens wird das Manifest weiterhin von Parteiführer und Labourparlamentariern verfaßt - und nicht wie beantragt vom Parteivorstand, der bisher eine linke Mehrheit hatte. Und zweitens wählte man in den Parteivorstand eine rechte Mehrheit. Von daher wäre es gar nicht nötig gewesen, der Fast-zwei-Drittel-Mehrheit für die einseitige Abrüstung die Zwei-Drittel-Mehrheit für den Verbleib in der NATO an die Seite zu stellen. Mit diesen Beschlüssen hat der Parteitag ein Programm verabschiedet, das gegen die Regierung radikal Front macht, und ihm gleichzeitig die Spitze abgebrochen, indem einer künftigen Labour-Regierung alle Möglichkeiten offengelassen werden. Parteiführer Foot hat Tony Benn das Recht bestritten, als künftiger Minister seine Kabinettskollegen öffentlich zu kritisieren: Schließlich darf es keine zwei Klassen von Ministern geben - in einer souveränen, britischen Regierung.

Fast sah es so aus, als hätten die Konservativen für ihren Parteitag in Blackpool Labour einiges abgeschaut. Die parteiinterae Opposition gegen die Lady um den von ihr abgesägten Ex-Parteiführer Ted Heath, der Schützenhilfe von jungen, "liberalen" Tory-MPs erhielt, präsentiert sich als Sorge um Gefahren für die Nation, die aus Thatchers z u "hartem Kurs" erwachsen könnten. Nach dem Parteitag präsentiert sich nun die Regierungspartei als umgekehrtes Spiegelbild ihres stärksten Konkurrenten: Ein ungeschmälert "radikales" Regierungsprogramm, das Her Majesty's Government alle Möglichkeiten offenlaßt, die momentane "Durststrecke" zu überwinden, an deren Ende Großbritannien "stärker denn je" sein wird - und eine parteiinterne "gemäßigte" Variante, die den Wählern aus dem einfachen Volk signalisiert, daß seine Sorgen auch den Konservativen bekannt sind. Labour und die Tories - zwei Angebote ans britische Wählervolk, Britain greater zu machen. Damit die kommende Wahl nicht noch schwerer fällt, wird es erstmals eine relevante dritte Alternative geben, das sozialdemokratisch-liberale Bündnis mit dem originellen Programm, als einzige Kraft die Nation wirklich zu retten.