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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1980 erschienen.

Systematik

Reinhard Kühnl in Wien
WIE MAN DEN TOTALITARISMUSTHEORETIKER KRITISCH ERGÄNZT

In Österreich heißt der MSB pikanterweise KSV. Sonstige Unterschiede von Belang gibt es nicht, nachdem inzwischen auch der SPARTAKUS seinen Stolz auf "unser Land" äußert und damit den Vorsprung der Alpen-Revis aufgeholt hat, die schon deswegen immer die Parole "Immer für Österreich!" im Munde führten, weil beim Zustandekommen der 2. Republik die Sowjetunion ihre Finger im Spiel hatte. So nimmt es nicht wunder, wenn auch der austro-marxistische KSV seine politische Agitation gerne von gleichgesinnten Professoren besorgen läßt und auf die Autorität des Amtes staatlich anerkannter Geistesgrößen baut. Im Zuge seiner Kampagne gegen die Bundespräsidentschaftskandidatur des Neofaschisten Burger, an der die KPÖ unter dem Motto "Schande für Österreich" Anstoß nahm, wurde der Marburger Politologe Reinhard KÜHNL nach Wien eingeladen, um dort den fortschrittlichen Intellektuellen die Augen über die "Totalitarismustheorie" zu öffnen. Die MARXISTISCHE GRUPPE, die in Österreich auch so heißt, lud ihrerseits den bekannten Kühnl-Spezialisten der MG Marburg, T. TROELLER ein, so daß KüHNL in Wien nicht nur seine eingeübten 3 Gedanken über den Faschismus einem neuen Publikum vortragen, sondern auch gleich ihre Widerlegung aus erster Hand geboten werden konnte.

Die Totalitarismustheorie: teils wahr, teils unvollständig

KÜHNL referierte die zentrale Aussage der Totalitarismustheorie wie folgt: Nationalsozialismus und Kommunismus seien ihrem Wesen nach identisch, und zwar sowohl als politische Bewegung wie auch als Herrschaftsform; beide seien auf Abschaffung der Demokratie gerichtet, würden, an die Macht gekommen, Diktaturen errichten und anstelle des die Demokratie kennzeichnenden Pluralismus einen politischen, ideologischen und wirtschaftlichen "Monismus" etablieren. KÜHNLs Referierung war also noch zu entnehmen, welcher plumpe wissenschaftliche Fehler diese Theorie charakterisiert und welchen Absichten sie eine wissenschaftliche Weihe verschaffen will: Sie mißt alle Gesellschaftsformen am Vorhandensein von Demokratie, um dann in der Abwesenheit derselben die hauptsächliche Eigenschaft von Faschismus und Kommunismus festzustellen. Daß diese vor allem sind, was sie nicht sind, läßt sich auch positiv, und zwar als Tautologie ausdrucken: Es herrsche in ihnen die Diktatur. Und damit ist die vorab als Maßstab aller (auch der wissenschaftlichen) Dinge unterstellte Demokratie ihrerseits bereichert - nämlich um das Nichtvorhandensein von Gewalt alias Vorhandensein von Pluralismus.

Professor KÜHNL hielt den Autoren der Totalitarismustheorie dennoch zwei Dinge zugute. Erstens bescheinigte er seinen Wissenschaftlerkollegen die besten Absichten - "subjektiv" verstehe ein K. D. BRACHER z.B. sich als Liberaler, und die antikommunistische Totalitarismustheorie ist ihm dann offenbar nur als ein antiliberaler Ausrutscher anzukreiden. Und zweitens vertrat KÜHNL die Auffassung, daß diese Sorte von Ideologie nur "relativ falsch" sei, ja ihr ein "partielles Moment von Wahrheit" keinesfalls abzusprechen sei. Der Mangel dieser Theorie bestehe vor allem darin, daß sie "nur deskriptiv" verfahre und ihr das wichtigste Moment wissenschaftlicher Erklärung, die "Herstellung von Kausalbeziehungen", weitgehend fehle.

Fürwahr eine nachsichtige Kritik an einer Theorie! Wenn diese nur unvollständig ist, so ist es ja wohl kein Problem, sie zu komplettieren; und dem, was sie bereits zustandegebracht hat, hat KÜHNL ja explizit eine - jedenfalls teilweise - Wahrheit bescheinigt. Daß letzteres für Theorien gelten müsse, die auch KÜHNL insgesamt für verkehrt hält, begründete er aus den Bedingungen für ihre Wirksamkeit: Um überhaupt glaubwürdig zu sein, müsse auch die "unvollständige, oberflächliche, verzerrte Wiedergabe der Realität" durch falsche Theorien an "realen Erfahrungen anknüpfen", also müßten diese partiell die Wahrheit wiedergeben. Den Fehlschluß, daß die Plausibilitäten, deren sich jede Ideologie bedient, um ihre falschen Erklärungen mit "realen Erfahrungen" irgendwie in Verbindung zu bringen, bei den Adressaten der Ideologie eigentlich ein Interesse an Wahrheit unterstellt, illustrierte KÜHNL mit folgendem gelungenen Beispiel: Seit Ende der 60er Jahre hätte die Totalitarismustheorie an Wirkung rapide verloren (stattdessen seien Wissenschaftler seines Schlages in den Vordergrund getreten), weil mit Beginn des Osthandels dessen Funktionäre wirkliche Aufschlüsse über den Charakter des realen Sozialismus benötigt hätten. Warum ist KÜHNL dann eigentlich nicht Chefberater bei Berthold Beitz geworden?!

Wie man Antifas vom Antifa abbringt

Wie ernst er es mit besagtem Fehlschluß meint, unterstrich KÜHNL ferner mit seinen Ausführungen über die Wirkung der Totalitarismusideologie und deren angebliche gesellschaftliche Bedingungen. Danach sei nach 45 in ganz Europa bei vielen (wenn nicht den meisten) Menschen ein praktischer antifaschistischer Wille am Werk gewesen, der auch völlig über Kapitalisten und andere "Oberklassen" als "verantwortliche Triebkräfte" des Faschismus im Bilde gewesen sei. Diese Oberklassen hätten die "Restauration ihrer Herrschaft" in der Nachkriegszeit nicht zuletzt durch ideologische Beeinflussung der Antifaschisten bewerkstelligt. Zentrales Moment darin sei eben die Totalitarimustheorie gewesen, die sich einerseits der Verurteilung des Faschismus vom Standpunkt der Demokratie aus angeschlossen, andererseits den Sozialismus durch seine Identifizierung mit dem Faschismus gleich mit diskriminiert habe.

Ein merkwürdiges Weltbild ist das, KÜHNLs "materialistische Geschichtstheorie"! Nicht nur, daß er einer Ideologie zutraut, den praktizierten Antifaschismus, der die "Oberklassen" abschaffen will, zur Parteinahme für dieselben zu bringen. Auch der Inhalt der Ideologie scheint wenig geeignet, die Leistung zuwegezubringen, die der Professor ihr andichtet. Wie soll man schließlich auch die Überzeugung von jemandem in ihr Gegenteil umkehren können, wenn man ihm zur Hälfte noch darin bekräftigt?! Schließlich behauptete KÜHNL auch noch, die Totalitarismustheorie würde sich vor ihrem "eigenen Anspruch" entlarven, Faschisten und Sozialisten zu treffen, indem in der Bundesrepublik einseitig nur Linke mit Berufsverbot belegt würden!

Zu solchen Dummheiten versteigt sich also ein linker Manipulationstheoretiker, der die von ihm favorisierten "gesellschaftlichen Kräfte" für so dumm erklärt, daß sie von ihrem richtigen Interesse durch das Propagandamittel einer "nur zum Schein antikommunistischen und antifaschistischen Ideologie" Abstand genommen hätten. Und seinen eigenen, als Antwort auf solcherart Einwände nachgeschobenen Hinweis darauf, wie sich das Verhältnis von Dummheit und Interesse tatsächlich gestaltet, wollte er lediglich als Verweis auf den "gesellschaftlichen Kontext" der zur Debatte stehenden Ideologien und keinesfalls als ihren Grund verstanden wissen: Er erwähnte die Übermacht der USA nach 1945 und ihre Rolle bei der Errichtung der BRD sowie den Tatbestand, daß die Totalitarismustheorie eine amerikanische Erfindung ist...

Vom Weltbild des Antifaschisten

Woher sein mildes Urteil über die wissenschaftliehe Dignität der Totalitarismustheorie und seine Ignoranz gegenüber deren Fehlern rührt, gab KÜHNL auch noch bekannt. Er teilt nämlich deren Verfahren, alle gesellschaftlichen Zustände nach dem Grad der An- oder Abwesenheit von Demokratie zu bemessen, vollständig. Beim Faschismus kommt er dabei sogar (abgesehen von der Einschätzung der Rolle der Kapitalisten) zum selben Resultat: Auch bei ihm besteht der "soziale Inhalt des Faschismus" darin, daß die "ganze Gesellschaft, auch die Betriebe, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam" organisiert gewesen sei, also im Fehlen von Demokratie. Umgekehrt beim Kommunismus: Von "terroristischen" Abweichungen unter Stalin abgesehen, die als bloße "Erscheinungen" am sozialistischen "Wesen" vorbeigegangen sein sollen, zeichnet dieser sich laut KüHNL durch ganz viel Demokratie aus, also dadurch, daß gleich in allen gesellschaftlichen Bereichen das Prinzip dieser Herrschaftsform zur Anwendung gelangt. Und anders soll bei KüHNL Demokratie gar nicht wirklich dauerhaft existieren können, denn er erklärte die repräsentative Demokratie, für die die Totalitarismustheoretiker Partei ergreifen, für ziemlich "antidemokratisch", da sie Bestrebungen nach "wirklicher Selbstbestimmung des Volkes" mit Hilfe ihrer Ideologie als "totalitär" denunziere.

Daß derzeit die repräsentative Demokratie keine Konkurrenz mit einer Politik, die auf "wirkliche Selbstbestimmung des Volkes" abzielt, zu fürchten braucht (wozu, Antifaschisten im übrigen ihr bescheidenes Scherflein beitragen, die schließlich auch die "bloß repräsentative" Demokratie gegenüber dem Faschismus bedingungslos verteidigen wollen), machte KÜHNL zuletzt in schönster geschichtsphilosophischer Manier zum besten Beleg für die glänzenden Erfolgsaussichten eines totaldemokratischen Standpunkts: An der aufwendigen Propaganda der Totalitarismustheorie und ihrem ideologischen Erfolg lasse sich noch ermessen, wie stark die "geistige Macht" des unterlegenen antifaschistischen = sozialistischen Standpunkts (gewesen) sein müsse...

Die "geistige Macht" hatte KÜHNL tags zuvor in der Diskussionsrunde "Club 2" des Österreichischen Fernsehens dadurch demonstriert, daß er mit dem amerikanischen Hitlerbiographen David IRVING und österreichischen Weltkrieg-II-Generalen manche Übereinstimmung in Sachen Faschismusanalyse konstatieren und einiges "aus seiner Sicht" hinzufügen durfte.