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Olympiaboykott:
SPORTLER DURCH UND DURCH
Nach der Pleite in Lake Placid kann Deutschland wieder stolz sein auf seine Sportler. Denn sie haben bei dieser Olympiade gerade dadurch einen Sieg für die Nation errungen, daß sie zum Wettkampf erst gar nicht antreten wollen. Von Carter bis zu den Journalisten ist man des Lobes voll. "Mut" hätten sie bewiesen, unsere deutschen Sportler, wahre "sportliche Disziplin" bescheinigte ihnen Strauß für ihre ganz und gar unsportliche Leistung, daheim bleiben zu wollen, und die Münchner "Abendzeitung" will in der Abstimmung des NOK vom 11. Mai gar eine "Stellvertreter-Demonstration der Jugend der Welt" gegen Afghanistan erblicken wie weiland gegen Vietnam.
Die besseren Politiker
Daß am Himmelfahrtstag im Düsseldorfer Hotel Inter-Continental nicht über die Entspannungspolitik und Bündnistreue zu entscheiden war, das wußten auch die dort versammelten Sportler. Nicht einmal über die Frage 'Olympiaboykott - ja oder nein?' war noch zu befinden. Denn wenn sich auch noch nicht jede der 99 Stimmen öffentlich festgelegt hatte, so bestand doch von vorneherein die beruhigende Gewißheit, daß die Mehrzahl verantwortlich und d.h. gegen Moskau stimmen würde.
Dennoch debattierte das NOK vier Stunden lang "vor Millionen Fernsehzuschauern", als ob es nicht nur um die Olympischen Spiele, sondern auch um die Zukunft der Nation ginge. Als wäre ihnen über dem Leistungssport das Hirn aus dem Kopf gefallen, führten sich die geschäftsmäßigen und die aktiven Sportler auf wie Politiker, so sehr, daß sie letzteren von der Presse gar als Torbild empfohlen wurden.
Da wurde "bis zum letzten Augenblick gekämpft", "sachlich und leidenschaftlich argumentiert", "um die schwere Entscheidung gerungen" und - das war fast das Schönste - der Gegner "fair" behandelt. Ein Sportler kennt schließlich die 'Spielregeln': die demokratische Heuchelei, der Weltfrieden hinge von ihrer Verantwortlichkeit ab, beherrschten Gegner wie Befürworter so perfekt, daß beide eine Goldmedaille verdient hätten. Während Daume gerade im "Widerstand" gegen die Regierung den "Beweis eines mutigen Patriotismus" sehen wollte, weil der Sport "auf lange Sicht" "Völkerversöhnung" hervorbringen müsse, wohingegen die Regierung mit ihrer Friedenspolitik "an nähere Ziele gebunden" (Krieg?) sei, drehte Weyer diesen Sportsidealismus um und rief die Sportler dazu auf, ihrer Dankesschuld gegenüber dem hilfsbedürftigen Vater Staat freudig nachzukommen: "Unser Staat hat uns geholfen, wo wir ihn gebeten haben. Und jetzt sollten wir uns, wo der Staat uns bittet, verweigern?" "Mit Schmerzen" (Hut ab!) "und mit Sand im Munde" (daher das Zähneknirschen der Medaillenanwärter) beugten sie sich denn auch den Interessen des Vaterlandes, dem dadurch "möglicherweise größere Opfer" zu ersparen sie sich einbilden wollten. Die "Brutalität" ihres "Opfers" (Fechterpräsident Güse) liegt in der Dummheit seiner Begründung.
Der Nutznießer
Was die Debatte der Sportler zu einer nationalen Feierstunde werden ließ - und zu einem Erfolg der Regierung im besonderen -, war nicht so sehr das Ja zum Boykott, sondern die Art und Weise, wie die Zustimmung zur Entscheidung der Regierung veranstaltet wurde: als Demonstration für die hierzulande gewährte Freiheit, seine eigene Meinung haben zu dürfen.
"Es ist in diesem Staate möglich", so der Boykott-Gegner Beyer von den Schwimmern,.. - und darauf bin ich stolz -, andere Auffassungen zu vertreten."
Ganz autonom und ohne politischen Druck, den nicht die Funktionäre selbst auf sich ausgeübt haben, durfte der Sport sich öffentlich vier Stunden lang die Sorgen der Regierung machen. Er durfte anderer Meinung sein - und kein Redner versäumte, 1. seinen "Respekt" vor dem abschlägigen Beschluß des Bundestags, 2. seinen Dank für die ihm gewährte Freiheit und 3. seine Absicht, sich der schon feststehenden Mehrheit im NOK zu beugen, zu bekunden. Das wohlkalkulierte "Leider", mit dem die Regierung ihre Boykottentschließung nach außen an die Sowjetunion und nach innen ans Volk und die Sportler verkaufte, wurde von letzteren recht verstanden. Die "Empfehlung" als Druck zu bezeichnen, wäre eine Verleumdung der Sportler, die sich die Freiheit ihrer Meinung ja gerade dadurch verdient hatten, daß sie - wie in zahlreichen Gesprächen mit Politikern vorher gründlich sondiert - den rechten Gebrauch von ihr zu machen versprachen. Dem NOK seine "Würde" (Daume) und der Regierung den Erfolg! Mit dem ganzen demokratischen Procedere nämlich, in dem die Regierung sich ganz unparteiisch als Gesprächspartner aufführte (Bahr schreibt einen "privaten" Brief, Schmidt läßt sich vor der Sitzung von Weyer anrufen, Carstens lädt zum Carstens SC), machte sie gleich einen doppelten Stich: 1. benützte sie auch diesmal den Sport als Mittel ihrer Politik und macht aus der Debatte, ob Sport und Politik nun zu trennen seien (= ob der Wettkampf der Nationen als Demo für Gesprächsbereitschaft oder für das Gegenteil eingesetzt werden soll), selbst eine höchstoffizielle politische Veranstaltung;
2. ließ sie sich auch noch dafür loben, daß sie freiwilligen statt Kadaver-Gehorsam verlangte. Auf die kleinen Unterschiede kommt es eben an, wie Daume richtig bemerkt:
"Der Sport in einem freien Land unterscheidet sich radikal vom kommandierten Sport."
Bei uns ist der Sport eben freiwillig Staatssport.
Die Opfer
Nr. 1: Die Sowjetunion.
Jenseits aller scheinheiligen Bezweifelei, ob der Boykott die Russen aus Afghanistan vertreibt oder nicht, steht eins fest: sie ärgern sich ordentlich, und zwar nicht bloß, weil die Hotels im Sommer leer stehen und keine Devisen reinkommen. Für sie ist die Demonstration von Amerikanern und Co. tatsächlich ein Schlag, weil's ihnen im Gegensatz zu den westlichen Nationen ziemlich ernst ist mit der Ideologie vom Sport als Mittel der 'Völkerfreundschaft', sprich: staatlicher Selbstdarstellung in der Weltöffentlichkeit. Eben weil für sie der Sport mehr ist als ein brauchbarer Staatsluxus, nämlich das unverzichtbare Gütesiegel der friedliebenden Sowjetnation, haben sie diesen Schlag auf jeden Fall verdient.
Nr. 2: Die Medaillenanwärter.
Die verheerenden Wirkungen, die der Boykott auf die potentiellen Helden der Nation ("Sie haben sich 10 Jahre auf die Olympiade vorbereitet und 25.000 Mark jährlich gekostet"!) ausübt, faßte Degen-Sieger A. Pusch zusammen:
"Als es zur Abstimmung kam, war mein Puls höher als bei einem Finale. Ich weiß ietzt nicht, was ich tun soll. Am besten mache ich wohl Urlaub."
Das Mitleid der Nation ist ihnen sicher, Funktionäre und Politiker wußten gleich, daß der "demotivierte Athlet" (viel Muskeln, wenig Motiv) jetzt nichts so nötig hat wie ihre "Lebenshilfe". Und damit ist die Sache auch schon erledigt. Denn
"obwohl niemand gegenwärtig zu sagen vermag, ob es sich lohnt, sich für Los Angeles 1984 zu schinden," (Süddeutsche Zeitung)
kann sich die Nation diesbezüglich 100%ig auf ihre Athleten verlassen. Deshalb geschieht's auch ihnen gescheit recht.
Nr. 3: Der Fernsehzuschauer.
Der hat aber bekanntlich noch die Fußballeuropameisterschaft, für die sich die schematischen Russen völkerfreundlicherweise nicht qualifiziert haben, und kann für Deutschland zittern. Deshalb hat auch er das Ersatzprogramm verdient.