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WIE DER 'VIELVÖLKERSTAAT' SEIN VOLK BEHERRSCHT
Seit Titos Tod, der schließlich die rundum geschätzte personalisierte Garantie des Westens für neutrale Linientreue, staatliche Stabilität und verantwortliche Einheitlichkeit des Staatswesens dahinraffte, geistert wieder der alte, historisch überhöhte politologische Dauerbrenner durch die Presse: Wie steht es mit der Einheit des jugoslawischen Staates?
Das 30 Jahre in Frageform angemeldete Interesse am Erhalt dieser Herrschaft hat wie schon die ewige Dauer dieser Frage beweist - mit der Realität dort unten wenig zu tun. Die einsatzfreundliche Phantasie, daß nach Titos Tod plötzlich die Serben russisch, die Makedonen bulgarisch, die Slowenen österreichisch, die Kroaten selbständig, die Bosnier moslemisch und die Montenegriner sonst was werden wollten und die Russen das ausnutzen könnten, oder das scheinbar realitätsnähere Gejammer, daß sich mit dem ständigen proportionalen Wechsel an der Spitze nicht mehr so einfach das für blockfreie Staaten
"so wichtige persönliche Vertrauen zu den jugoslawischen Führern"
im westlichen Block herstellt, lassen sich deswegen auch nicht dadurch erschüttern, daß politischer Mord und Totschlag nur bei faschistischen Exilkroaten in der BRD bekannt ist, daß sich Slowenen aus banalen Steuergründen in Kroatien ansiedeln, Makedonier in Serbien oder Montenegro Arbeit suchen und daß die penetranten Versuche des westlichen Fernsehens, den 'jugoslawischen Mann auf der Straße' des Separatnationalismus zu überführen, regelmäßig scheitern, weil er ohne Bedenken Staatszugehörigkeit und Nationalität verschieden oder auch einfach als 'Jugoslawe wie Tito' (der also doch nicht der einzige Jugoslawe ist) angibt. Denn die eigentümliche bürgerliche Dialektik von Nation und Nationalität, die den in Einigkeit mit seinem Volk vorgestellten Staat und das seinem Staat zugehörig vorgestellte Volk munter gegeneinander ausspielt, entdeckt in all den Formen eines politischen und ideologischen Föderalismus - in denen sich die staatliche Herrschaft abspielt - immer nur seinen Ausgangspunkt wieder: Daß erstens auf die Stabilität dieser Herrschaft aufzumerken ist, weil sie zweitens nicht genügend den politischen Willen ihrer Untertanen für sich zu vereinnahmen weiß und deshalb schwach ist. Das Gegenteil ist der Fall, was schon daraus zu ersehen ist, daß die verschiedenen 'Republiken' und 'autonomen Provinzen' nicht gegen die Existenz der Zentralregierung Politik machen, sondern als Konkurrenz untereinander durch den Streit um mehr Einfluß in ihr und auf sie, bzw. um mehr Zugeständnisse von ihr. Im 'Versammlungssystem' ist das ganze 'Nationalitätenproblem' auf gut jugoslawisch gelöst: Mit der Institutionalisierung 'proportionaler Beteiligung aller staatlichen Unterherrschaften an der Zentralgewalt, die sie damit bilden, mit dem streng geregelten jährlichen Wechsel im Vorsitz der kollektiven Präsidien von Staat und Partei sind die politischen Ansprüche der verschiedenen Republiken befriedigt und für die gemeinsame Staatsgewalt eingespannt. Gemäß der verfassungsmäßigen
"Gleichberechtigung der Völker und Völkerschaften"
ist ihnen nicht nur der Ehrentitel Volk, sondern auch das Recht verliehen, große Teile der staatlichen Herrschaft in ihrer Region selbst auszuüben, wobei dies Recht je nach Bedarf so verwirklicht wird, daß den einzelnen Republiken bzw. Provinzen mehr an eigener Entscheidungskompetenz zugebilligt wird bei Beibehaltung der staatlichen Richtlinienkompetenz, so daß sie zunehmend selber jenen 'Rahmen' ausfüllen dürfen, der im Bund festgelegt wird. Daß mit der Anwendung des 'Prinzips der kollektiven Führung' und Selbstverwaltung der Staat sich handlungsunfähig gemacht und nicht sich sehr handlungsfähig etabliert hätte, ist genauso eine Einbildung hiesiger Stabilitätsfanatiker wie die analoge, umgekehrte Vorstellung humansozialistischer Linker, die in der Aufteilung der Entscheidungskompetenzen einen Abbau von 'Machtstrukturen' entdecken wollen, weil die Nationalitätenunterschiede nicht mehr als nationale Gegensätze auftreten. Dabei ist nur dafür gesorgt, daß in der ökonomischen und politischen Konkurrenz der Republiken in der Föderation die 'kroatische, serbische etc. Identität' herangenommen werden kann für die Beförderung des nationalen Reichtums. Im Streit der Völkervertreter um mehr Förderung und weniger Abgaben für ihre jeweilige Republik bewährt sich die Abstimmung von diversen Herrschaftsinteressen gerade deshalb, weil noch jeder dieser Experten in Sachen 'mehr Vorteile für das eigene Volk' weiß, daß hier eine Hand die andere wäscht. Die Vertreter der ärmeren Republiken haben viel zu viel damit zu tun, sich wieder mal eine Fabrik im Süden finanzieren zu lassen, die dann als Ruine stehen bleibt, weil inzwischen beschlossen wurde, daß sie doch zu teuer ist, noch mehr Kredite und Umverteilung aus dem reicheren Norden zu fordern, einen fähigen Mann aus der Heimat irgendwo zu protegieren, mit den Lokalgrößen daheim sich zu verständigen und mit den Kollegen in Belgrad auf die mangelnde Arbeitsmoral zu schimpfen und gesamtjugoslawische Belange im In- und Ausland zu beraten, als daß sie von historischen Zeiten träumen könnten, wo sie nicht einmal nationale Politiker werden konnten. Die aus den reicheren Gegenden haben alle Hände voll damit zu tun, ihren proportionalen Ämtervorsprung zu nutzen, höhere Devisenquoten für ihre Republik wegen exportwürdigerer Unternehmer auszukungeln, obwohl man gerade deren Kürzung mitbeschlossen hatte, und Kredite für die Hungerleiderregionen zur Streichung vorzuschlagen, und kommen daher sicher nicht auf die überlegung, ob die Vertiefung der ökonomischen Gegensätze zwischen Nord und Süd zum Vorteil ihrer Republik nun trotz der alten nationalen Erbfeinde oder mit ihnen zustandegebracht worden ist. Kurz, es ist dafür gesorgt, daß jeder Republikvertreter im wohlverstandenen Eigeninteresse sich bemüht, z.B. die gewissen eigenen Freiheiten bezüglich der Zahlungs- und Handelsbilanz gegenüber dem Ausland im Rahmen der zentralen Außenhandelspolitik zu nutzen und zugleich als Teil der Zentrale darauf dringt, die Republiken nützlich zu machen für die Entwicklung des ganzen Staates. Die kommt zwar nur bedingt zustande, doch gut genug, um die Völkervertreter an der Konkurrenz um und in der Staatsmacht und am Ideal eines starken, jugoslawien viel Gefallen und Teilnahme finden zu lassen. Die Völker und Völkerschaften offensichtlich auch, obwohl ihr verstorbener Einheitsstifter Tito ziemlich unverblümt ausgesprochen hat, daß die Förderung der "unterentwickelten Provinzen" und der ganzen jugoslawischen Nation mehr unter dem Gesichtspunkt der nationalen Akkumulation statt unter dem der verarmten Bauern im Süden oder ihrer auch nicht gutgebetteten slowenischen Landsleute gesehen werden müsse: Das Problem der unterentwickelten Regionen muß sich
"auf längere Sicht auch wirtschaftlich ungünstig auswirken, da Entwicklunngsgefälle keineswegs die erweiterte Reproduktion anregen können: sie engen vielmehr die Kaufkraft unterentwickelter Gebiete ein und halten somit die raschere Entwicklung des ganzen Landes auf. Daher würde ein solcher Zustand sowohl für die ganze Gemeinschaft wie für alle ihre entwickelten und auch unterentwickelten Teile schwere Folgen zeitigen." (Tito, 162)
Das ziemlich unnationalistische Verhalten der Slowenen u.a. - an westlichen Spekulationen gemessen - liegt wohl weniger daran, daß sie diese Äußerungen in der Mehrzahl nicht gelesen haben, sondern eher daran, daß sie statt der erdichteten Separatisten träume lieber als Slowenen über die faulen Kosovaren schimpfen, oder als Montenenegriner die Slowenen als "Schwabi" bezeichnen, weil sie wie die Deutschen schuften und Tito nicht in Belgrad, sondern in Ljubljana im Krankenhaus an den Apparaten hing. Sie pflegen also durchaus einen gestandenen Nationalismus, der die mangelnden Früchte der politischen Kollektiv- und Republikentscheidungen für sie gern dem Volkscharakter irgendwelcher lieben Landsleute zuschreibt, die man beneidet, oder denen man sich überlegen fühlt. Für überregionale Konkurrenzgerechtigkeit ist also viel Anlaß gegeben, und das ist neben dem Stolz, in einem unabhängigen Jugoslawien zu leben, keine schlechte Zustimmung zur dortigen Sorte Herrschaft - zumal, wenn sie sich noch mit der bornierten Zufriedenheit mit der Freiheit verbindet, seine eigenen Tänze, Bräuche, Sprache und Religion pflegen zu dürfen, seine eigene Republikregierung, seine eigenen Vertreter in Belgrad, seine Nationalmannschaft und seinen Tito (gehabt) zu haben.
Man sieht, wie wenig Geschichte bedeutet und wie leicht sogenannte Nationalitäten in einer gemeinsamen Nation zu befriedigen sind, wenn ihre Politiker ordentlich beteiligt sind und sich das Volksbewußtsein damit zufriedenstellen läßt, daß auf die anderen geschimpft werden darf, daß Landsleute mit- und selbstregieren und daß an Titos Krankenbett neben einem russischen und einem amerikanischen Arzt auch einer aus jeder Republik vertreten war. Wenn das kein Nationalbewußtsein ist, mit dem sich ein ordentlicher Staat machen läßt!