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China
DIE POLITISCHE EMANZIPATION DER VOLKSWIRTSCHAFT VOM VOLK
Vom 30. August bis 12. September war in China Nationaler Volkskongreß. Der anheimelnde Zweck dieser Veranstaltung des Gremiums, das die VR China als ihr Parlament bezeichnet, bestand erklärtermaßen darin, öffentlich auf "politische Konsolidierung" zu machen; zu zeigen, daß der volksrepublikanische Ablauf der Politik eine wohlgeordnete Sache ist, die in lauter funktionierenden Einrichtungen garantiert, daß sich das liebe Volk erstens nützlich macht und zweitens das Parteileben nicht durch unsachgemäße Störungen des Souveräns stört, was ja früher - zu Zeiten der jetzt zerschlagenen Viererbande und ihres großen Vorsitzenden - aus lauter Begeisterung nur allzu oft der Fall war.
Wenn die "Neue Zürcher Zeitung" (hier nur stellvertretend für die freie Weltpresse zitiert) angesichts dessen, daß "erstmals seit 25 Jahren wieder ausländische Botschafter und akkreditierte Korrespondenten zu den Plenarsitzungen des Volkskongresses zugelassen" sind, anmerkt:
"Man will die Aufmerksamkeit der übrigen Welt gewinnen und ihr zugleich zeigen, daß es bei den zu beschließenden Änderungen in China mit rechten Dingen und unter korrekten Prozeduren zugeht.", "Großer Wert wird darauf gelegt, das Revirement" (einiger Figuren in der Regierung) "als legales und demokratisches Verfahren vorzuführen und Spekulationen über neue Machtkämpfe zu widerlegen." (NZZ, 7./8.9.1980),
ist dies folglich auch nicht wie sonst üblich der Auftakt zur süffisanten Entlarvung des keines weiteren Aufhebens werten parlamentarischen Fassadenschwindels sozialistischer Staaten. Vielmehr hat die Tagung nicht nur die gewünschte Aufmerksamkeit in der demokratischen Öffentlichkeit der imperialistischen Staatenwelt erhalten: Die Redaktionen der chinesischen Nachrichtenagentur Xinbua und der Beijing (= Peking) Rundschau können sich auch freuen, in ihrer eigenen Darstellung und Kommentierung der Ereignisse und Beschlüsse der 3. Tagung des 5. NVK endlich einmal selbst so genau dem westlichen Informationsbedürfnis entsprochen zu haben, daß kaum einer der freien Zeitungsschreiber abweichende oder darüber hinausgehende Spekulationen und Interpretationen lieferte. Dieser verblüffende Konsens hat seinen schlichten Grund in der Vertrautheit mit den zentralen Themen der auf der Tagesordnung stehenden Berichte und Beschlüsse: Rechtsstaatlichkeit der Herrschaft, Demokratisierung, Dezentralisierung, Entbürokratisierung der öffentlichen Verwaltung, und realistische, sachkompetente Wachstumspolitik - Probleme, wie dein Staat und mein Staat sie haben.
Rechtsstaatlichkeit statt Mobilisierung der Volksmoral
Die Bürger Chinas, die jahrzehntelang ganz anders einig wurden als zivilisierte Staatsvölker im Westen, die, aus ihrer liebgewonnenen Vorstellung von einer unkündbaren Einheit von Staat und Volk,ihre Moral zu gültigen politischen Entscheidungen werden ließen, werden sich an einiges gewöhnen müssen. Ab sofort appelliert kein Mao und auch sonst niemand mehr an ihr Gerechtigkeitsempfinden in Sachen "rot und fachkundig" - jetzt haben sie Rechte, und ihre Moral will keine politische Fraktion mehr benutzen. Als hätten die Parteiarbeiter ausgerechnet unsere Auffassung vom Recht zur Kenntnis genommen und sich zueigen gemacht, regeln sie ab sofort - ganz ohne Massenlinie und -diskussion -, was Chinesen dürfen und zu lassen haben.
"Im letzten Jahr veröffentlichte Statistiken zeigen, daß die Jugendkriminalität sich seit der Zeit vor der Kulturrevolution verzehnfacht hat. Und eine neuere Studie macht klar, daß der Anstieg der Kriminalität direkt auf diese Periode zurückzuführen ist, als Raub, Zügellosigkeit, Plündern für revolutionäre Akte durchgehen konnten.
Seit dem 1. Januar jedoch hat ein neues Strafgesetzbuch die Strafbarkeit solcher Handlungen eingeführt." ("The Times", 4.8.80)
Selbstverständlich mit einem Recht des Straftäters auf einen fairen Prozeß, wofür die ebenfalls neu inkraftgetretene Strafprozeßordnung, Gerichtsverfassungs-, Staatsanwalts- und Rechtsanwaltsgesetz, alles was zu einer ordentlichen Justiz dazugehört also, Sorge tragen.
Die Veröffentlichung der Statistiken selbst, garniert mit plastischen Schilderungen einzelner Fälle von Gewalt im Volke, ist deshalb eine der wichtigsten Aufgaben des vor einem Jahr neugebildeten Justizministeriums, das "die Popularisienng des Rechtswissens zu betreiben hat" ("China aktuell", August 1980):
"Die Nachrichtenedien haben der Kriminalität zunehmende Beachtung eingeräumt, ein klares Indiz dafür, daß die amtliche Politik die Gesetzlosigkeit als eine Angelegenheit der breiten Öffentlichkeit behandelt." ("Times", 4.8.80)
- um so anhand der Berichte über die Überführung und gerechte Bestrafung von Räubern, Mördern und Frauenschändern Rechtsbewußtsein unters Volk zu bringen. So viel verstehen die Nachfolger des größten Marxisten aller Zeiten inzwischen vom Klassenkampf, daß sie ihren "Massen" Recht und Ordnung als Schutz vor allerlei Untaten ihrer Mitmassen und böser "Elemente" verkaufen. Sie wissen sogar, daß auch die Berufung auf die Unzufriedenheit, wenn sie von Staats wegen korrekt in Szene gesetzt wird, eine Einheit von Volk und Staat zustandekommen läßt, Freilich eine Einheit "neuen Typs" für China, was auf der NVK=Tagung durch Hua Guofeng klargestellt wurde:
"Wirkliche Rechtsstaatlichkeit ist nötig nicht nur für die Konsolidierung und Stärkung der Stabilität und Einheit unseres Vaterlandes, sondem auch, um den reibungslosen Fortgang der Modemuierung zu sichern. Zu diesem Zweck müssen wir Gesetzgebung und Justiz weiter ausbauen. Wir müssen vor allem wesentlich umfassendere Gesetze als bisher ausarbeiten, insbesondere im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung." ("Beijing Rundschau" Nr. 38, 22.9.80)
Im einzelnen seien in nächster Zeit vorzubereiten: ein Zivilgesetzbuch nebst Zivilprozeßordnung, ein Betriebsverfassungsgesetz, ein Arbeitsgesetz, ein Vertragsgesetz und ein Gesetz über die regionale Autonomie.
"Nach dem gesetzgeberischen Totalstillstand während der Kulturrevolution ist dieses zur Zeit eingeschlagene Tempo beachtenswert, zumal es ja nicht um Nebengesetze, sondern um Grundkodices geht.", bemerkt dazu mit Recht das Hamburger Institut für Asienkunde in seiner Zeitschrift ("China aktuell", August 1980)
Vor allem aber, dies macht der Vorsitzende Hua deutlich
"haben alle Regierungsebenen den Gesetzen, Verordnungen und Dekreten entschlossen Geltung zu verschaffen" und sogar "unsere Kader ein Beispiel an Disziplin und Gesetzestreue zu geben, statt kraft ihrer Autorität Gesetz und Ordnung mißachten können zu meinen." ("Beijing Rundschau" Nr. 38)
Ordnung kehrt also ein im Reich der Mitte, und zwar durch Maßnahmen der Partei, die sich den lästigen Umweg von einst, den über die begeisterte Billigung der "Massen", erspart, Sie beschließt im Namen des Volkes für selbiges Gesetze, die bisweilen sehr gegen gewohnheitsmäßige Praktiken einschreiten und hat ebensowenig wie Mao in seinen Glanzzeiten ein Problem damit, sich auf das Volk zu berufen. Von den Konjunkturen im Gerechtigkeitsempfinden der Chinesen allerdings soll sich die Politik ganz rechtens emanzipieren!
"Eine Tagung der Demokratie und der Reformen..."
Die systematische Einrichtung und der "Politik der vier Modernisierungen" gemäße rechtliche Regelung des Gegensatzes des Staates zu seinen Bürgern sowie der materiellen Interessen der Leute in der Form von Konkurrenzinteressen fand während des Volkskongresses ihre penible Entsprechung in der Art, wie Chinas Führer den Staat als solchen, sich selbst und an den Institutionen der politischen Herrschaft die neuen demokratischen Prinzipien zur Schau stellten, in denen das Stimmungsbild des "Beijing-Rundschau"-Reporters denn auch ausgiebig schwelgte. Schwelgen wir mit:
"Früher betraten die Staatsführer erst in strahlendem Licht aller Scheinwerfer die Präsidiumstribüne, wenn alle Abgeordneten ihre Plätze eingenommen hatten, und sie wurden jedesmal mit stürmischen und langen Ovationen vom Auditorium empfangen. Hinter der Präsidiumstribüne hingen diesmal keine Porträts irgendwelcher Führer, sondern nur das Staatswappen der VR China."
Während also früher der Vorsitzende - vom Volk geliebt und im Bild allgegenwärtig - leibhaft den Staat und die Porträts von Marx, Engels, Lenin und Stalin die dazugehörige, mit der gewonnenen Erhebung von einst begründete Staatsmoral verkörperten, wird jetzt fein säuberlich wie im Plenarsaal des Bundestages das abstrakte Subjekt Staat als solches an die Wand gepinnt, dem gegenüber jedermann an seinem Ort seine Pflicht tut:
"Auch die Staatsführer nahmen wie jeder andere Abgeordnete an der Gruppendiskussion teil. Die Abgeordneten hatten das Gefühl, daß die künstliche Mauer, die zwischen den Führern und den einfachen Abgeordneten existierte, nun abgebaut wird, ja, daß der Weg jetzt in Richtung Demokratisierung verläuft."
Was da als "Abbau von Macht" und persönlichen Privilegien gefeiert wird, kann mit Recht funktionelle Reform genannt werden. Nicht, daß wir das Theater von einst für eine rationale Angelegenheit halten - die Veränderungen sind schlicht und einfach eine einzige Anstrengung zur Rationalisierung der politischen Herrschaft.
"Die Strukturreformen in der Staatsführung zielen ab auf die Lösung solcher Probleme wie übermäßige Machtkonzentration, fehlende Funktionstrennung von Partei und Regierung, wobei die erstere die letztere vielfach ersetzt, sowie das ganze System, daß leitende Kader ihr ganzes Leben lang ihre Ämter innehaben."
Die nachgerade methodische Stellung der chinesischen Staatsplaner zur Nützlichkeit der Demokratisierung für die Dezentralisierungspolitik, d.h. die Einrichtung einer allgemeinen Konkurrenz zwischen Produzenten, Produktionskollektiven und Regionen zur Beförderung des wirtschaftlichen Wachstums, führt die "Beijing-Rundschau" im selben Bericht (Nr. 39, 30.9.80) explizit vor:
"Die neue Form der Demokratie bei dieser Tagung war nicht zufällig. Man hat aus den schmerzlichen Erfahrungen der zehnjährigen kulturrevolutionären Katastrophe gelernt, daß sich ohne politische Demokratisierung die Überlegenheit des Sozialismus nicht niederschlagen, die Wirtschaft sich nicht reibungslos entwickeln kann und die vier Modernisierungen sich nicht realisieren lassen. In den letzten Jahren wurden die Entscheidunesrechte für die Kommunen, Produktionsbrigaden und -gruppen auf dem Lande sowie für die Industriebetriebe ausgewertet und die funktionen und Machtbefugnisse der Belegschaftsvertreterversammlungen erwertert; es fanden demokratische Wahlen statt, und alle Formen von Patriarchalismus, Bürokratismus und privilegien wurden kritisiert. Dies hat den Horizont der Menschen zweifeflos erweitert und das Denken der Menschen von vielen Fesseln befreit."
Diese wirkliche Demokratisierüng - überall im Lande dürfen die Bürger, dank ebenfalls neuer Wahlgesetze sogar ganz geheim, ihre demokratischen Vertreter wählen, die dann entschlossen dem Recht Geltung verschaffen bzw. mit demselben gegen die anderen das Beste für ihre Organisation aus der institutionalisierten Konkurrenz herausholen - gilt den westlichen Beobachtern auch umstandslos als entscheidender Beitrag zur endlichen Sicherung der innenpolitischen Stabilität. Da wundert sich keiner, daß so nebenbei der Volkskongreß das Verfassungsrecht auf Veröffentlichung von Wandzeitungen abschaffte. (Die "Mauer der Demokratie" in Peking, an der die Korrespondenten selbiges Bürgerrecht anschauen durften, ist ohnehin schon vor Monaten in eine Werbefläche für Coca Cola, japanische Lastwagen, chinesische Armbanduhren und ähnliche Freiheitsbekundungen aus der nationalen und internationalen Warenwelt umgestaltet worden.) Auch diese Form der Öffentlichkeit, in der die Chinesen mancherorts ganz ungefragt ihre Meinungen und Beschwerden handwerklich und ohne das ständige Vorurteil vom Nutzen der Nation, nur unter Berufung auf ihre wie immer moralisch geläuterten momentanen Beweggründe zum Besten gaben, ist dem Plan einer industriellen Demokratie im Wege. Gewisse "medienpolitische" Entscheidungen, auch wenn es in China gar kein Wort dieser Art gibt, stehen sicher an.
"Eine offene und ehrliche Tagung..."
Angesichts der umfassenden Berichterstattung aller chinesischen Zeitungen über die Diskussionen im Volkskongreß, die "freimütige Kritik", die "hitzigen Wortgefechte" -
"Da wurdea die ungeheuren Verschwendungen im Investbau ebenso schonungslos kritisiert wie die realitätsferne Lohnpolitik, die Gleichgültigkeit gegenüber Preiserhöhungen, die Aufblähung der Verwaltunesorgane und der Bürokratismus." ("Beijing-Rundschau", 30.9.80) -,
angesichts der Bemühungen des Staates also, den unabhängigen (sic!) demokratischen Organen auch so etwas Ähnliches wie eine demokratische Öffentlichkeit, eine Sphäre der um das allgemeine Wohl sich sorgenden Meinungsäußerung zur Seite zu stellen, ist eine so anachronistische wie ineffektive Öffentlichkeitsinstitution wie Wandzeitungen, die immerhin gelegentlich von unzufriedenen Bürgern zur öffentlichen Artikulation ihrer Interessen benutzt wurden, überflüssig. Daß die ganze schonungslose Kritik genau an Inhalt und Zielsetzung der chinesischen Modernisierungspolitik orientiert ist, stört das Bild für den Betrachter keineswegs, greift doch diese Politik selbst, wie die Berichte des Parteichefs, des Finanzministers und des Chefs der Planungskommission an den Volkskongreß vorführten, mit "schonungslosem Realismus" in bislang nicht annähernd üblicher Detailliertheit öffentlich die Mängel der Staats- und Wirtschaftsverwaltung, die desolate Lage der Staatsfinanzen und den derzeitigen Stand der Wirtschaftsentwicklung auf, um sie an dem gültigen Kriterium der ganzen politischen und ökonomischen "Modernisierung" zu messen:
"Mit aller Kraft die Produktion steigern. Sparsamkeit üben, Verschwendung und Vergeudung bekämpfen und die wirtschaftliche Effektivität heben, dainit unsere Finanzaufgaben erfüllt werden können." (Finanzminister Wang Bingqian)
Mit der konsequenten Einnahme dieses Standpunkts der Rentabilität der Volkswirtschaft für den Staat hat sich die Volksrepublik China in der Tat nicht nur emanzipiert von der alten "Massenlinie", sondern stellt sich souverän wie kein anderer "sozialistischer Staat" zur Organisation ihrer Ökonomie wie zu den dafür erforderlichen Herrschaftsformen. "Wenn der Sozialismus nicht funktioniert, machen wir etwas anderes:" (Deng Xiaoping). - Und für die Rentabilität haben die Demokratisierer auch längst schon das Kapital entdeckt, das es zwar nicht in China, wohl aber auswärts im Westen reichlich gibt. Früher bauten chinesische Führer auf die Arbeitskraft ihrer Massen - heute wollen sie erkannt haben, daß sie mit ein bißchen Kapital und Kredit erst richtig angewandt werden kann.
Wenn sie sich da bloß nicht täuschen! Eine Demokratisierung in China ist nämlich mit diesem Volk leichter zu machen als eine einträgliche Ökonomie in Kooperation mit den neuen Freunden. Doch darüber in einem weiteren China-Artikel demnächst.