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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1990 erschienen.

Anmerkungen zum 35-Stunden-Jahrhunderterfolg der IG Metall
TARIFRUNDE '90 - UND WIEDER EINMAL HAT DIE GEWRKSCHAFT DAS BESTMÖGLICHE FÜR DIE ARBEITER HERAUSGEHOLT

In der diesjährigen Tarifrunde haben die größte und die traditionell radikalste Gewerkschaft im DGB für das Druckgewerbe und die Metallindustrie ihre "Jahrhundertforderung" nach der 35-Stunden-Woche durchgesetzt. Am erzielten "Traumergebnis" (Steinkühler) ist zu ersehen, wie die Forderung gemeint war; daraus ergeben sich einige Schlüsse auf die Prinzipien gewerkschaftlicher Tarifpolitik.

1. Das Ergebnis: Praktische Flexibilisierung mit theoretischer Vorteilsrechnung für die Betroffenen

Die Unternehmen haben der Gewerkschaftsforderung den Standpunkt und die Parole entgegengesetzt: "Jetzt weniger arbeiten - der falsche Weg"; eher sei die Rückkehr zu längeren Arbeitszeiten ratsam. Gegen die Parole haben die Gewerkschaften heftig polemisiert; den Standpunkt haben sie respektiert und in das Tarifergebnis mit eingehen lassen. Denn erstens findet die Verkürzung der Tarifarbeitszeit nicht jetzt statt, sondern in zwei Stufen 1993 und 1995; fürs erste ändert sich also gar nichts. Damit wird den Unternehmen zweitens reichlich Gelegenheit gegeben, dafür zu sorgen, daß die jeweils knapp 3-prozentige Arbeitszeitverkürzung keineswegs entsprechend "weniger arbeiten" bedeuten muß. Es gibt genügend Wege, und sie werden in aller Ruhe genutzt, um mehr Arbeit in die bezahlte Stunde hineinzupacken. Drittens bedeutet die 35 - ähnlich wie die bisherigen Wochenstundenzahlen - nicht, daß nach 5 Tagen a 7 Stunden Schluß ist, so wie um die Jahrhundertwende nach 6 Tagen a 8 Stunden: Die Zahl gibt einen Durchschnittswert an, der dem Unternehmer die Freiheit gibt, Arbeit je nach aktuellem Bedarf abzurufen oder quasi aufzusparen. Außerdem bleibt viertens die unternehmerische Freiheit gewahrt, die 35-Stunden-Schranke, sofern sie sich als Schranke erweist, durch Überstunden beliebig zu überschreiten. Für einen gewissen Prozentsatz der Belegschaft - die Abkommen nennen, regional unterschiedlich, teils 18, teils 13% - willigt die IG Metall sogar fünftens in eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit ein.

Aus all diesen Bestimmungen geht klar hervor: In der Sache handelt es sich überhaupt nicht um eine gewerkschaftlich erzwungene zeitliche Beschränkung der Arbeitszeit, mit der die Unternehmer fortan rechnen und klarkommen müssen, aus der sie also durch geschickt gestaltete Leistungsansprüche, Flexibilisierung und ähnliche Kunststücke für sich das Beste zu machen haben. Es ist umgekehrt: Alles, was die Unternehmer aus der von ihnen gekauften Arbeitszeit gerne für sich machen wollen, nämlich eine ihnen frei verfügbare Dispositionsmasse, ist der Gegenstand des neuen Tarifvertrags. Die vereinbarte 35 nimmt sich daneben wie ein höflicher Hinweis aus, daß die Belegschaft sich auch etwas ausrechnen kann, wenn ihre Chefs die gewünschte freie Verfügung über ihre Arbeitsstunden bekommen. Sie ist gewissermaßen "das Beste", was die Lohnarbeiter für sich aus der neuen Lage "machen" können: Rechnerisch verkürzt sich ihre tarifliche Anwesenheitspflicht.

2. Worum es der Gewerkschaft geht: Das Kriterium des Bestmöglichen

Dieses Optimum haben die Gewerkschaften - wie sie selbst nicht ohne Stolz von sich sagen - erkämpft, zumindest in dem Sinn, daß ohne ihre Forderung und ihr nachdrückliches Verhandeln die Unternehmer gewiß keinen Grund gehabt hätte, von ihrem Verfügungsrecht über die Arbeitszeit ihrer Belegschaft überhaupt ein Aufhebens zu machen und Neuerungen auf diesem Feld mit dem Zugeständnis der Zahl 35 zu verbinden.

Die Gewerkschaft ist also - und sie versteht und betätigt sich als - Partei in einem Interessenkonflikt. Sie vertritt die Sache der Lohnarbeiter in dem Wissen, daß die bei der Einrichtung wie bei der Entlohnung ihrer Arbeit nichts zu melden haben; sie tritt für sie ein gegen die Unternehmer, also in dem Wissen, daß die mit dem Kauf der Arbeit auch alle Freiheit haben, sie in ihrem Interesse, als Dienst an ihrem Eigentum, wirken zu lassen. Die Gewerkschaft wendet sich polemisch gegen die in der Natur der Sache namens "Lohnarbeit" liegende Abhängigkeit der Lohnarbeiter vom Unternehmensinteresse; in dem Wissen, daß es sich mit dieser Abhängigkeit nur schlecht bis gar nicht leben läßt. Dabei mag sie ihr Augenmerk mal mehr der Lohnsumme, mal mehr der verlangten Leistung, mal mehr der Arbeitszeit widmen - daß Lohnarbeit in allen ihren Aspekten kein vernünftiges Lebensmittel der Lohnarbeiter ist, sondern eine für sie höchst negative Angelegenheit, ist allemal die selbstverständliche Voraussetzung, wenn Gewerkschaften sich ans Fordern machen. Die heftige Beschwörung der Notwendigkeit, von längeren Arbeitszeiten endlich herunterzukommen, hat auch für die Tarifrunde '90 diesen Ausgangspunkt gewerkschaftlichen Einsatzes nachdrücklich in Erinnerung gebracht.

Das Ergebnis zeigt freilich, wie dieser gewerkschaftliche Einspruch gegen die Freiheit des Kapitals und die Abhängigkeit der Lohnarbeiter gemeint ist. Um eine Aufhebung der Macht der einen und der Notwendigkeiten der anderen Seite geht es nicht. Gewerkschaftlicher Einsatz richtet sich darauf, die Wirkungen des Interessengegensatzes zwischen Lohnarbeit und Kapital zu korrigieren, um das Verhältnis selbst fortzuführen. Die Einmischung der Gewerkschaft ist auf Vereinbarkeit beider Seiten aus; sie macht sich dafür stark, daß Lohnarbeiter von und mit ihrer Dienstbarkeit für das Kapital "leben können".

An dem gültigen kapitalistischen Verhältnis, daß der Betrieb die Belegschaft benutzt und nicht umgekehrt, vergreift sich eine Gewerkschaft also nicht. Da steht dem bedingten Interesse des Unternehmens an bezahlter Arbeit - nämlich soweit das dafür gezahlte Geld sich geschäftlich lohnt - die mittellose, alternativlose, daher bedingungslose Bereitschaft der Arbeiter gegenüber, sich für die Unternehmer nützlich zu machen. Die Gewerkschaft ist weder noch will sie ein Mittel sein, das den Arbeitern eine Alternative dazu eröffnete, ihre Dienstbereitschaft zu Geld zu machen, und das ihnen damit die Macht verschffen würde, für ihre Arbeit Bedingungen zu stellen. Sie nimmt selber den Standpunkt der mittellosen Dienstbereitschaft der Lohnarbeiter ein, wenn sie den Unternehmen mit Forderungen kommt. Ihr Fordern ist ein Drängen, daß der diensttuende Mensch, gerade weil er keine Alternative hat, mit seiner Arbeit und dem dafür gezahlten Lohn auch muß klarkommen können; sie fordert Rücksicht der gegnerischen Partei auf ihr eigenes menschliches Geschäftsmittel ein, beantragt die Optimierung dessen, was Lohnarbeiter innerhalb ihres Abhängigkeitsverhältnisses - gegen das die Gewerkschaft doch Einspruch einlegt - allenfalls abbekommen können.

3. Was die Gewerkschaft aufzubieten hat: den Schein von Erpressung

Wann immer eine Gewerkschaft Bilanz zieht und es für nötig hält, wieder einmal auf Rücksichtnahme der Unternehmer zu drängen - in der BRD traditionellerweise jährlich, die entsprechende Jahreszeit heißt Tarifrunde -, gibt sie sich kämpferisch; im Vorfeld des diesjährigen Tarifabschlusses ganz besonders. Das ist auf der einen Seite sachgerecht. Denn sie hat nur genau ein Mittel, um nachdrücklich zu werden; das ist der Kampf, die kollektive Arbeitsverweigerung, die das Geschäftsinteresse des Unternehmers schädigt.

Auf der anderen Seite sind ungeübte Beobachter immer wieder beeindruckt von dem Mißverhältnis zwischen kämpferischen Tönen und zurückhaltender Arbeitskampfpraxis der Gewerkschaft; geübte Beobachter ordnen die Streikbereitschaft westdeutscher Gewerkschaften schon längst als "Getöse" ein. Auch das ist sachgerecht und nicht die Preisgabe eines "eigentlichen" gewerkschaftlichen Kampfauftrages. Denn für das, was eine Gewerkschaft will und als Gewerkschaft auch bloß kann, ist Arbeitsverweigerung im Grunde eine unverhältnismäßige Waffe. Der gewerkschaftliche Streik tut ja gewissermaßen so, als wollten die Lohnarbeiter sich die Freiheit herausnehmen, die Fortführung ihrer Lohnarbeit allen Ernstes an von ihnen gestellte Bedingungen knüpfen, und als könnten sie sich diese Freiheit herausnehmen, weil sie auf geschäftstüchtige "Arbeitgeber" nicht länger angewiesen sein wollen und sind. Dabei ist beides gar nicht der Fall. Weder der Wille noch die Freiheit ist vorhanden, den Unternehmern Bedingungen zu stellen und für den Fall, daß die verweigert werden, die kapitalistisch monopolisierten Produktionsmittel selber in die Hand zu nehmen und sich ganz anders als durch entlohnten Dienst einen gesellschaftlichen Lebensunterhalt zu beschaffen. Die Schädigung der Unternehmensinteressen, um die es beim Arbeitskampf allemal geht, soll deren Herrschaft über die Wirtschaft keineswegs vernichten. Der Dienst wird ja nur eingestellt, m ihn fortzuführen; um selber zum Respekt vor der freien unternehmerischen Kalkulation mit Löhnen und gekaufter Arbeitszeit zurückzukehren - der war also gar nicht wirklich aufgekündigt.

Es liegt somit in der Natur des gewerkschaftlichen Kampfes, in seiner widersprüchlich beschränkten Zwecksetzung, daß er das Unding einer Erpressung ohne wirklich durchschlagendes Erpressungsmittel ist. Das kämpferische ist zugleich ein höchst rücksichtsvolles Drängen. Deswegen verlangt es auch den streikenden Arbeitern den Widerspruch ab, eine Schädigung der Lohninteressen, die sie doch fördern wollen, freiwillig in Kauf zu nehmen - eben weil sie bloß die fördern und nichts kündigen wollen. So zeigt sich am gewerkschaftlichen Kampf selber, daß er aus der Abhängigkeit vom gegnerischen Interesse gar nicht herausführen soll.

Die Ohnmacht ihres ureigenen Kampfmittels brauchen die modernen westdeutschen Gewerkschaften längst nicht mehr erst aus schlechten Erfahrungen und erlittenen Niederlagen zu lernen. Die kunstvolle Inszenierung ihrer Tarifrunden - immerhin ist soeben ein ganzes Jahr sich steigernder Warnungen, Kampfesdrohungen und Beschwörungen der Unverzichtbarkeit des 35-Stunden-Ziels zu Ende gegangen, kurz und knapp in einer lauen Verhandlungsnacht - belehrt darüber, wie routiniert sie sich in ihren Forderungen wie mit ihrem Vorgehen von vornherein auf ihre Ohnmacht einstellen.

4. Warum einer modernen Gewerkschaft ihr Tarifkampf zum juristischen Ritual gerät

Ohne fristgerechte Vertragskündigung und abgewartete Friedenspflicht läuft in westdeutschen Tarifauseinandersetzungen überhaupt nichts. Was denn allenfalls läuft, steht unter einer Zweckbestimmung, die geradezu ein Bekenntnis zu der Ohnmacht gewerkschaftlichen Auftrumpfens darstellt: "Warnstreiks" sollen es den Unternehmen nahelegen, die "Last" der verlangten Rücksichtnahme auf die Arbeiter mit dem Vorteil eines ungestört weiterlaufenden Geschäfts zu vergleichen und um des lieben Friedens willen nachzugeben. Die Fortsetzungen dieses Manövers - die Rechtsstreitigkeiten um richtige und kalte Aussperrung, um Arbeitsamts-Gelder und den Paragraph 116 des Arbeitsförderungs-Gesetzes usw. - durfte man dieses Jahr und darf man wohl bis auf weiteres vergessen. Dazu kam es nämlich gar nicht erst; und niemand war darüber mehr erleichtert als die kämpferischen Gewerkschaften selbst. Nicht etwa bloß deswegen, weil sie so keine Streikgelder zu verpulvern brauchten: Sie haben ihre Warnstreiks von vornherein als das inszeniert, was die demokratische Öffentlichkeit schon längst bloß noch in ihnen sieht, nämlich als Aufführungen, mit denen sie keinen Schaden anrichten, sondern Eindruck machen wollen. Und das weniger der gegnerischen Verhandlungspartei als der demokratischen Öffentlichkeit, die über die moralische Berechtigung des gewerkschaftlichen Forderns und Kämpfens befinden soll. Der erklärt eine kämpferische Gewerkschaft ihre Aktionen als lauter letzte Mittel, um den "richtigen" Arbeitskampf zu vermeiden; und das ist ein interessanter Standpunkt. Druck machen und ihren Forderungen Nachdruck verleihen, das bewerkstelligt die Gewerkschaft da nämlich in der Weise, daß sie an das allgemeine - das öffentliche moralische und das politische - Interesse an den sozialen Frieden appelliert: Das Gemeinwesen, dem an ordentlichen Verhältnissen liegt, soll dafür sorgen, daß die Gewerkschaft mit ihrem Anliegen nicht zu kurz kommt, damit sie nicht womöglich den Frieden stören muß.

So setzt die Gewerkschaft für ihr Anliegen als Partei in einem gesellschaftlichen Interessensgegensatz auf das Allgemeinwohl, auf dessen viele Freunde und Förderer und darunter nicht zuletzt auf dessen Sachwalter, den Staat, der allen seinen Bürgern ordentliches Benehmen vorschreibt - und der Gewerkschaft das Streiken gestattet. Das kann - so denkt offenbar die Gewerkschaft - kein Zufall sein. Im Recht auf Arbeitskampf entdeckt sie erst gar nicht die rechtlichen Schranken, die die Staatsgewalt damit dem gewerkschaftlichen Einspruch gegen die Herrschaft des Kapitals vorsorglich zieht; deswegen kommt sie auch erst gar nicht in die Verlegenheit, ihren Kampfeswillen am Recht des Gemeinwohls, also am Einspruch der staatlichen Gewalt beschränken zu müssen. Sie begreift umgekehrt das staatliche Zugeständnis an den gewerkschaftlichen Standpunkt, die Streikerlaubnis, als ein Rechtsgut, das entsprechend verantwortungsvoll, als Beitrag zur ordentlichen Rechtslage, wahrgenommen werden muß; als wäre ihr das Streikrecht dafür gewährt worden, daß sie verantwortungsvoll Alarm schlagen kann, wenn die soziale Verantwortung der Unternehmer mit ihrem Eigentum - auch ein Rechtsgut! - einmal zu wünschen übrig läßt.

So liegt in der "Strategie" der Gewerkschaft, auf allgemeine Zustimmung als Druckmittel für ihre Anliegen zu setzen, die denkbar eindeutige Willenserklärung vor, ihren Kampfeswillen nicht bloß am Gemeinwohl, das auch dem Unternehmer das Seine zugesteht, zu relativieren, sondern ihn überhaupt bloß als Einsatz für die höheren Gesichtspunkte des Gemeinwohls zu betätigen.

5. Wie es einer modernen Gewerkschaft gelingt, immer das Richtige zu fordern

Die Inhalte gewerkschaftlichen Wünschens und Drängens sehen logischerweise ganz entsprechend aus. Gewerkschaftliche Tarifpolitik jedenfalls fordert nie für die Lohnarbeiter die Mittel eines guten gesichterten Lebens, um sich anschließend durch die konkurrierende Gewalt ihres Gegners auf das kapitalistisch funktionale Maß des proletarischen Lebensstandards herunterdrücken zu lassen. Sie kalkuliert mit den Geld-, Zeit- und sonstigen Bedürfnissen der Leute, die sie vertritt, von vornherein unter dem Gesichtspunkt ihrer reibungslosen ordentlichen Einfügung in das Gemeinwohl und als abhängigen Größen - abhängig von Dingen wie der Konjunktur, dem Wirtschaftswachstum, der nationalen Konkurrenzfähigkeit, also lauter volkswirtschaftlich gedachten Sachzwängen des kapitalistischen Erfolgs. An Korrekturen zugunsten der Lohnarbeiter wünscht sie nichts, was sie nicht, zumindest bei ein wenig gutem Willen, aus der gedeihlichen Fortführung des gesamten Verhältnisses ableiten ließe.

Bei ihren Geldforderungen - die diesmal keine große, aber ihre typische Rolle gespielt haben - verfährt die Gewerkschaft gewohnheitsmäßig so: Ihre Experten beziffern mit Hilfe der offiziellen Statistiken erstens den Durchschnitt der Preiserhöhungen, um den der Lohn gleichfalls aufgestockt werden müßte, um nicht real dahinzuschwinden; zweitens eine durchschnittliche Steigerung der Produktivität, die zu gerechten Teilen dem Lohn wie dem Profit zugute kommen sollte. Das erste ist überhaupt kein Antrag auf Besserstellung der Arbeiter, das zweite ein sehr seltsamer. Die Tarifrechner beziehen sich da nämlich auf erfolgreiche Anstrengungen der Unternehmer, die Rentabilität ihres eingesetzten Geldes - die Kapitalproduktivität - zu erhöhen, insbesondere durch den Einsatz verbesserter Produktionsmittel, die sich in erster Linie durch die Einsparung von bezahlter Arbeit bezahlt machen. Daß diese Sorte technischer Fortschritt nicht den Arbeitern Arbeit, sondern den "Arbeitgebern" bezahlte Arbeit erspart, ist für die Gewerkschaft Grund genug, die Sache anders zu sehen: Sie nimmt sich die Freiheit, Zweck und Ergebnis dieses Fortschritts, die Senkung der Lohnkosten, als Chance aufzufassen, als erfreuliche Steigerung der Produktivität der Arbeit und gute Aussicht für diejenigen, die sie verrichten. Denn die könnten doch jetzt auch mehr bekommen und nicht nur die Unternehmer - so als hätten deren Bemühungen um den "Fortschritt" nicht erst einmal die Lohnkosten gesenkt und als wäre nicht das der Zweck der Veranstaltung, sondern das edle Anliegen, höhere Löhne auszahlen zu können.

Auf diese Weise übersetzt die Gewerkschaft den Interessensgegensatz, in dem das Kapital zu seinem menschlichen Geschäftsmitteln steht und dessen notwendige Wirkungen sie für dauernd korrekturbedürftig hält, in ein schiedlich-friedliches Teilungsverhältnis, in einen sinnreichen Parallelismus der Zwecke und Erfolge des Geschäfts auf der einen, der Chancen der diensttuenden Belegschaften auf der anderen Seite. Wenn die gegensätzliche Abhängigkeit so aufgefaßt wird, als marschierten Kapital und Lohnarbeit Arm in Arm in die gleiche Richtung, dann ist die Gewerkschaft zufrieden und dafür.

Und das kriegt die Gewerkschaft noch in jeder Tarifrunde hin; wie denn auch nicht. Der berüchtigte "Verhandlungspoker" bringt den gewerkschaftlichen Idealismus, der das Kapital als Lebensmittel auch für die Arbeiter, ebenso wie für die Eigentümer, verstehen möchte, zur Deckung mit dem gewerkschaftlichen Realismus, der sich von den Geschäftsinteressen des Kapitals darüber belehren läßt, wie diesmal wieder der "gerechte Anteil" der Arbeiter zu bemessen ist. Am Anfang, bei der Kündigung des alten Tarifvertrags und der Formulierung von Forderungen, lautet allemal die Klage, die glänzende Gewinnsituation der Unternehmen hätte sich kilometerweit vom Lebensstandard der Arbeiter entfernt, oder die Unternehmer würden "die Krise" rücksichtslos auf dem Rücken der Beschäftigten austragen; auf alle Fälle könne von Gleichschritt und Gleichklang der Interessen keine Rede mehr sein. Am Ende, mit dem neuen Vertrag, braucht sich gar nichts weiter geändert zu haben - mit dem Vetragsabschluß selber ist bewiesen, daß mehr für die Lohnarbeiter nicht drin war, genau das aber schon, so daß die optimale Bedienung ihrer Interessen bis auf weiteres wieder einmal als gesichert zu gelten hat. Zwar sind die betreuten Lohnempfänger nach wie vor als Geschäftsmittel des Kapitals und sonst nichts aktiv; aber bis zur nächsten Runde braucht das und hat das keinem mehr etwas auszumachen.

6. Die 35: Wie leicht aus einem Skandal ein "Traumergebnis" wird

Nach genau dieser Logik feiern die Gewerkschaften der Druck- und Metallbranche die Zahl 35 in ihrem neuen, bis 1998 reichenden Jahrhundert-Tarifvertrag. Bis neulich noch war der sinkende Anteil der Löhne am deutschen Volkseinkommen ein Skandal, die exorbitante Gewinnsituation der Unternehmen ein einziger Beweis für den enormen Nachholbedarf der Arbeiter, die geltende Arbeitszeitordnung ein "Angriff auf unsere soziale Zeitkultur" (Steinkühler am 1. Mai), der "Samstag unverkäuflich" (ders.), die 35-Stunden-Woche der überfällige Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit, die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden ruinös für Gesundheit und Familie und so weiter. Nun ist wirklich nicht mehr passiert, als daß für 1993 die 36 und für 1995 die 35 als Rechengröße, die nichts zwingend einschränkt und verkürzt, im Vertragswerk steht, daneben sogar offiziell die 40 für ein Achtel bis ein Sechstel der Belegschaft; ganze 6 Lohnprozente sollen den über die Jahre aufgelaufenen "Nachholbedarf" der Lohnempfänger vergüten - und die Welt der Gewerkschaft ist in Ordnung. Mit der blanken Zahl auf dem geduldigen Papier hält sie den Beweis in Händen, um den es ihr offenbar zu tun war, nämlich daß die Marktwirtschaft eben doch unüberbietbar sozial ist - freilich nur und genau deswegen, weil es sie gibt, die Gewerkschaft, die ihren Gegnern immer erst abkämpfen muß, worauf sie dann selber stolz sind:

"Schon in wenigen Jahren werden die Gegner unserer Arbeitszeitforderung die soziale Marktwirtschaft dafür loben, daß sie eine so humane Arbeitszeit wie die 35-Stunden-Woche zuläßt. Das Soziale an der Marktwirtschaft müssen die Gewerkschaften immer erst gegen die Verfechter der freien Marktwirtschaft durchsetzen." (Breit am 1. Mai)

Auf alle Fälle, das beweist dieses Selbstlob, ist es Sache der Gewerkschaften, die Interessensgegensätze zwischen den Machern der "freien Marktwirtschaft" und der abhängig variablen Menschheit so zum Gegenstand von Tarifverträgen zu machen, daß sie sich überhaupt nicht weiter zu ändern brauchen, um ihren Charakter ganz und gar zu ändern: Als Verhandlungskompromiß ausgedrückt, stellen sich alle Freiheiten des Kapitals als Meilensteine des sozialen Fortschritts und jeweils bestmögliche "Lösung" für die Lohnarbeiter dar.

So gesehen ist der gewerkschaftliche Kampf ein Kampf ums Erscheinungsbild. Und zwar gar nicht einmal zuallererst um das der Gewerkschaft selbst, sondern um das sozial-menschenfreundliche der kapitalistischen Gesellschaft. Das wiederum hängt freilich schon entscheidend von dem Gehör ab, das die Gewerkschaft findet. Insofern fällt der soziale Charakter der Nation durchaus mit ihrer Achtung vor der Gewerkschaft zusammen. Und deswegen kommt die Gewerkschaft aus sozialer Verantwortung nicht umhin, immer wieder einmal auf sich und die Unverzichtbarkeit ihrer Beiträge für ein geglücktes Gemeinwesen aufmerksam zu machen. Auch und gerade dann, wenn ihre besten Vorschläge, wie etwa die Sache mit der 35, auf bornierten Widerstand stoßen, der die Gewerkschaft zu der Drohung nötigt, sie könnte sich eventuell zur Störung des sozialen Friedens genötigt sehen, um ihn zu retten.

7. Warum die Tarifpartner ihren geplanten Jahrhundert-Kampf dann doch abgesagt haben

Ein Kampf für den Beweis, daß das Soziale an der Bundesrepublik ohne die 35 nicht mehr vom Fleck kommt: Das stand für dieses Jahr auf der gewerkschaftlichen Tagesordnung, ist dann aber doch noch, in einem abgekarteten Spiel zwischen den Unterhändlern von IG Metall und Gesamtmetall, "in letzter Minute abgewendet" worden. Die Unternehmer haben darauf verzichtet, im angesagten Kampf um das soziale Erscheinungsbild der Nation ihrerseits gegen den gewerkschaftlichen 35-Stunden-Wahn ein Exempel zu statuieren. Mitten im Deutschland-Boom haben sie Besseres zu tun, nämlich jede Arbeitsstunde fürs Geschäft zu nutzen. Die Gewerkschaft ist erleichtert, daß ihr ohne Kampfgetöse der "Durchbruch" gelungen ist, ihrem Fetisch, der 35, gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen - was schließlich der Sinn und materielle Inhalt der ganzen Forderung war. Erleichtert ist sie um so mehr, als ihr selber klar geworden ist, wie wenig ein Streit um soziale Verschönerung der Nation auf Beifall rechnen kann, wenn die Nation sich gerade hingebungsvoll ihrer Vergrößerung widmet und in sozialer Hinsicht der wechselseitige Neid zwischen Ost- und West-Bürgern auf den - "bislang monopolisierten" bzw. "hergeschenkten" - "Besitz" der D-Mark die Szene beherrscht.

Außerdem steht mit der Annexion der DDR auch für den DGB eine Eroberungsaufgabe an, die gewerkschaftlichen Einsatz fordert. Der untergegangene SED-Staat braucht nämlich, im öffentlichen Interesse, die ausgereifte westdeutsche Gewerkschaftskultur. Das Volk drüben muß mit der gewerkschaftseigenen Dialektik versorgt werden, wonach unumgängliche Entlassungen sein müssen, damit die übrigbleibenden Arbeitsplätze übrigbleiben; wonach die DDR-Wirtschaft bis auf weiteres billige Löhne benötigt, damit sie kein Billiglohnland wird; wonach drüben eine leistungsfähige Marktwirtschaft hinmuß, damit deren soziale Folgen "abgefedert", "aufgefangen" und sonstwas werden können. Kurzum: Statt der alten Gewerkschaften, denen ein guter Demokrat kein Verantwortungsgefühl und dafür jede Sabotage am neuen Volkswirtschaftskörper zutraut, brauchen die neuen deutschen Ostprovinzen einen DGB, der durch seine bloße Existenz die Vereinbarkeit all der kapitalistischen Interessensgegensätze verbürgt, die nun ja auch drüben Einzug halten.

Denn sonst gäbe es drüben haufenweise geschädigte Existenzen, marktwirtschaftliche Opfer - und niemanden, der sie vertritt und dafür kämpft, daß sie ihren gerechten Platz einnehmen; niemanden, der die Lohnarbeiter drüben ihr ganzes Lohnarbeiterleben hindurch davon überzeugt, daß das Regime des Kapitals süß und nahrhaft ist, aber bloß weil eine freie Gewerkschaft verantwortungsvoll darauf aufpaßt.

Und das wäre für einen modernen Sozialstaat wirklich ein unhaltbarer Zustand...