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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1986 erschienen.

Systematik

Horst-Eberhard Richter: Die Chance des Gewissens. Erinnerungen und Assoziationen. Hamburg 1986
DER LEIDENS-KARAJAN PACKT AUS

Daß Wissenschaft auf dem persönlichen Bekenntnis zur Moral beruht; daß die Person des Wissenschaftlers für die Qualität seiner Gedanken bürgt, indem er seine Moralität vorlebt; daß der Gehalt der Wissenschaft daher in seinen Erlebnissen und Gefühlsregungen besteht und umgekehrt seine "Erinnerungen und Assoziationen" schon so gut wie fertige Urteile über die Welt sind - all das zeichnet die Veröffentlichungen des sozialbewegten Friedenspsychologen Horst-Eberhard Richter seit jeher aus. Insofern ist der theoretische Widersinn, seine "sehr persönlichen Gedanken" in einer Autobiographie zu veröffentlichen, für ihn nur konsequent. Sein Lebensbericht ist daher auch nicht die Erzählung mehr oder weniger unterhaltsamer Anekdötchen einer im Alter kindisch werdenden Berühmtheit, sondern damit zugleich die Krönung und Zusammenfassung seiner wissenschaftlichen Leistungen. Wofür steht diese Person eigentlich ein?

Der Mensch ist gut - Zur Unterhaltung und Erbauung vorgelebt

Den wissenschaftlichen Ertrag seiner Anstrengungen, den Richter als den inneren Kern sciner Person erfahren haben will, faßt er selbst so zusammen:

"Zur echten Mitmenschlichkeit gehört, daß man aufsteht und Verständigung gerade dort probiert, wo Fremdheit, Vorurteile, Feindlichkeit Barrieren errichtet haben. Wer erst einmal selbstsicher genug ist, wird ohne die Angst, sich selber zu verlieren, versuchen, gerade mit schwierigen Nachbarn, mit Leuten der Gegenpartei, mit Verfemten und Ausgegrenzten ins Gespräch zu kommen. Er wird sich nicht ausreden lassen, daß er überall, auch hinter allen Zäunen, Gittern, Mauern, Eisernen Vorhängen seinesgleichen zu erwarten hat; Menschen, denen zuzuhören und in die sich einzufühlen sich lohnt." (301)

Hat man sich erst einmal von seiner Rührung erholt und ist wieder bei Verstand, wird man feststellen, daß hier die unterschiedlichsten Dinge Erwähnung gefunden haben. Von Zwistigkeiten zwischen Nachbarn, vom Streit der Meinungen, von der staatlichen Hetze und dem persönlichen Haß gegen Türken und Kommunisten, vom Gegensatz der Staaten diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs ist die Rede, und all das soll ein und dasselbe sein, nämlich ein Gegensatz zwischen Menschen. Von den besonderen Subjekten, deren Zwecken, die da aneinandergeraten, und damit von Inhalt und Grund all dieser Gegensätze braucht Richter gar nichts zu wissen, weil er seine Erklärung mit der Diagnose von Gegensätzlichkeiten schon fertig hat: Absolut grundlos sind sie; verantwortlich sind für sie Vorurteile und Mißverständnisse, die mit ein bißchen gutem Zuhören gar nicht sein müßten. So wie ja auch jeder Nazi persönlich einen anständigen Juden gekannt hat und jeder Landser von einem freindlichen Russen zu erzählen weiß, den er getroffen hat. Richters Therapie besteht daher in dem bodenlosen Idealismus, der gute Wille des Einzelnen, die christliehe Tugend der Nächstenliebe, praktiziert von Menschen wie Du und Richter, könnte die praktisch geltenden Zwecke der kapitalistischen Gesellschaft, denen der Einzelne unterworfen ist, außer Kraft setzen. Immerhin geht aus dieser erbaulichen Vorstellung, die wenigstens demjenigen, der sie hat, den edlen Charakter bescheinigt, hervor, daß Richter weder zwischen Moral und Kritik, noch zwischen Caritas und praktizierter Gesellschaftskritik unterscheidcn kann.

Moral soll kritisch sein.

Das will Richter beispielsweise als Soldat unter Hitler am eigenen Leib verspürt haben. Deswegen hat er in sein Tagebhch geschrieben:

"Ich habe mich zutiefst geschämt - und doch alles mitgemacht." (31)

Seine eigene Psychologie scheint der Psychoanalytiker Richter jedenfaalls nicht zu durchschauen. Das Gewissen in Not, das moralische Organ, ist nämlich keine Korrekturinstanz gegen den Krieg und seine Äußerung keine Kritik am Mitmachen. Eher schon ist der angesprochene Gegensatz von Schamgefühl und Mitmachen, über den sich Richter verwundert, eine faustdicke Lüge. Der Witz an der schlechten Meinung von den eigenen Taten ist nämlich das gerade Gegenteil von einer Einsicht in die Fehler des eigenen Opportunismus, die man sich deshalb zu lassen vornimmt. Das Schamgefühl stellt sich vielmehr daann ein, wenn man die eigenen Taten mit der guten Meinung vergleicht, die man von der eigenen Person hat. Und diese gute Meinung erhält sich ein Mensch, der sich schämt, als das, was ihn eigentlich ausmacht, gegen all das, was er auf der Welt tatsächlich treibt. Wenn Richter sich also damals geschämt hat, so deswegen, weil das Dasein als nützlicher Idiot des Staates psychologisch gar nicht so einfach zu ertragen ist, mit dem entsprechenden Bewußtsein davon, daß man eigentlich etwas besseres sei, jedoch auszuhalten ist.

Wenn er sich heute in aller Öffentlichkeit schämt, so zeigt Richter damit, daß er die Dialektik des Gewissens - ein schlechtes Gewissen ist auch schon ein gutes - beherrscht. Öffentlich betreibt er dieses Geschäft, das andere im Stillen erledigen, weil er sich für die vergangenen Taten der deutschen Nation schämt, und führt damit am eigenen Leib den Beweis, daß das Vaterland bessere Nationalisten verdient hat und sein eigen nennt als diejenigen, die in ihm das Sagen haben. Gerade sein schlechtes Gewissen im letzten Krieg zitiert er als Bürgen dafür, daß es eine gute Sache ist, wenn er sich heute zur Vaterlandsliebe bekennt, und genügt darin einem intellektuellen Publikum, das sich darin gefällt, seine Heimat mit allerlei haltlosen Bedenken zu lieben:

"In einer Phase, in der es für uns Deutsche wieder interessant wird, uns als Deutsche zu definieren, uns unserer Vergangenheit, unserer Heimat zu vergewissern, leuchten automatisch Warnlampen auf." (285)

Womit die Warnlampen auch schon ausgeschaltet wären, weil das Ganze unter der Überschrift: "Neu lernen, was Deutsch-Sein heißt" steht.

Daß so einer dann die moralische Selbstdarstellung der Politik mit deren praktischen Zwecken beständig verwechselt und die Höflichkeitsgeste eines Bundeskanzlers vor einem polnischen Denkmal, mit der dieser sich. in den Osthandel und die Einflußnahme auf den Hauptfeind eingekauft hat, als menschliche Seelenregung nimmt - "Ich habe Willy Brandt bis heute meine Verehrung bewahrt." (200) -, versteht sich von selbst. Von wegen Kritik!

Caritas soll praktizierte Gesellschaftskritik sein.

Richter fällt es offenbar schwer, nicht ganz unwesentliche Unterschiede auseinanderzuhalten:

"Mich selber veränderte diese Krisenphase wesentlich. Sie bewog mich endgültig, Person, Beruf und politische Wirklichkeit als unlösbaren Zusammenhang zu begreifen." (158)

Was er als "Anwalt der Kranken, Behinderten und sozial Schwächeren" (91) bezeichnet, das ist in der kapitalistischen Gesellschaft ein Beruf. Dieser Beruf hat einen eigenen Zweck, der vom kapitalistischen Staat mit der Einrichtung eines sozialstaatlichen Betreuungswesens und der Bezahlung entsprechender "Anwälte" gesetzt ist. Dieser Zweck besteht darin, die menschliche Ausschußware der von diesem Staat geregelten Ökonomie, die ihre lohnende Benutzung gesundheitlich oder psychisch nicht mehr aushält, für eben diese Ökonomie wieder aufzubereiten oder endzulagern. Richter als Person, die einen solchen Beruf ausübt, mag dabei noch so edle Motive haben und bis zum Erbrechen immer wieder betonen, wie sehr er sich um "Obdachlose", "Schwererziehbare" und "Unterschicht-Klienten" gekümmert hat - mehr als diese edle und reichlich bornierte Gesinnung, die man auch noch zu dem wissenschaftlichen Fortschritt von der Psychologie zur Sozialpsychologie auswalzen kann, bleibt von seiner menschenfreundlichen Betätigung nicht übrig. Das liegt daran, daß sie den Grund, der die zu betreuenden Opfer produziert und laufend reproduziert, gar nicht erst zur Kenntnis nehmen, geschweige denn antasten will.

Per Beruf geht dies auch gar nicht. Was nämlich schließlich die politische Wirklichkeit anbelangt, so wird sich die kaum in ihrem gewöhnlichen Gang dadurch stören lassen, daß die von Staats wegen eingerichteten Berufe ausgeübt werden. Einem Richter werden diese "unlösbaren Zusammenhänge" zwischen seiner "Person, Beruf und politischen Wirklichkeit" freilich verborgen bleiben. Denn ein Mensch, der seinen eigenen Bericht über Armut und Verelendung, die er in einem Getto betreut hat -

"Sie machten selber Vorstöße bei den Behörden, die Frauen schlossen sich zu einem Hausfrauenclub zusammen, der eine Basis für allerhand Unternehmungen wurde. Die Männer bauten in mehrjähriger systematischer Arbeit einen Fußballverein auf... Eine Asphaltstraße mit ordentlicher Beleuchtung... Kinderspielplatz." (181) -,

als Schilderung seines Erfolgs vorträgt und der seine Verwaltungstätigkeit gleich ins Licht der Gesellschaftsveränderung und -verbesserung rückt -

"In unserem Miniaturmodell offenbarte sich in Grundzügen der Gegensatz zwischen der Vision eines menschenfreundlichen und der eines bürokratischen Sozialismus." (180) -,

der entdeckt eben bei allem, was er tut und läßt, immer nur seine gute Meinung darüber.

Der Mensch ist schlecht - Psychologischer Durchblick als elitäres Vergnügen

Eine Weltanschauung wird aus der Gleichsetzung von Selbstverwirklichung und Politik, die Richter dem Publikum vorlebt, erst durch die verkehrte Frage, warum dieser Idealismus keine praktische Geltung hat. Die Antwort, die Richter auf diese Frage gefunden hat, besteht in einem psychologischen Feindbild oder, was dasselbe ist, in einem elitären Menschenbild. In dieser Frage will selbst Richter einen Unterschied bemerken: den zwischen sich und seinesgleichen, den

"Empfindsamen, den an Inhumanität, Sozialabbau, Militarismus und Umweltzerstörung Leidenden" (109),

und dem Rest der Menschheit, der

"Masse einfacher Soldaten, die in ihrem Leben seit je nur ohnmächtig hin und her geschubst worden waren und in dumpfer Verbissenheit nur irgendwie durchkommen wollten." (31)

Was es mit der Empfindsamkeit der ersteren auf sich hat, durch die diese sich von letzteren unterscheiden, geht schon aus der ziemlich wahllosen Aufzählung dessen hervor, an dem sie angeblich leiden. Es ist der pure Wille zum Unterschied, der diesen in die Welt setzt und der sich darin betätigt, ihn genüßlich auszumalen:

"Nur der präsente äußere Hitler hatte die Macht gehabt, einem Heer uon Selbstentmündigten die so inständig gehegten überkompensatorischen Größen- und Überwertigkeitsträume zu erhalten. Hitlers Präsenz, der suggestive Rapport zwischen ihm und der infantilisierten Masse hatte das System in Funktion gehalten." (62)

Prüfen darf man diesen Unsinn freilich nicht, sonst käme glatt heraus, daß der Durchblick dieses Mannes darin besteht, den Faschismus in die grundlosen Wahnideen aller Beteiligten aufzulösen. Aber was soll man sich auch erwarten, wenn ausgerechnet ein Seelenfachmann die Psychologie des Faschismus erklären will: Da können ja nichts als allgemeinmenschliche Determinationsideen herauskommen. Die eigene moralische Verurteilung des Weltlaufs wird da in eine Theorie über die entarteten Figuren übersetzt, die diesen verkorkst hätten. Diese Sicht ist immer und überall anwendbar. So gilt von den Untertanen im Dritten Reich dasselbe wie für die Herrschaften heute, die "den Wahnsinn von SDI" (254) beschließen. Und ist erst einmal "die Armseligkeit und Krankhaftigkeit dieses destruktiven Wettlaufs um die unerreichbare definitive Weltherrschaft" (254) diagnostiziert, so sind endgültig auch die politischen Systeme mit ihren gegensätzlichen Interessen in die immergleiche Konstellation von psychischen Dispositionen aufgelöst. Immerzu fehlt es bei den Regierenden wie bei den Regierten an den staatsbürgerlichen Tugenden, die eine gesunde Persönlichkeit ausmachen sollen: zuwenig Selbst - und zuwenig Mit -! Die Defekte, die er an seinen Zeitgenossen ausmacht und die sie daran hindern, so eine zerknirschte und unverwüstliche Persönlichkeit zu werden, wie er eine ist, werden nicht aufgedeckt, um die "Masse" zu kritisieren und aufzuklären, damit die sich nicht mehr alles gefallen läßt. Seine psychologische Theorie sortiert die Menschheit und will Gleichgesinnte werben, die die Übel der Welt ähnlich sehe. Sein Publikum findet Richter konsequenterweise bei Leuten, denen das gefällt, bzw. die sich darin gefallen, um ihn herum eine Gemeinde leidend-engagierter Durchblicker zu bilden.