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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1984 erschienen.

Systematik

Die Winterkonferenz der NATO
MEHR GUTE WAFFEN FÜR DEN EINSATZ

Im Unterschied zu Athen war man sich auf der NATO-Konferenz in Brüssel grundsätzlich einig. Hier ging es ja auch um das überzeugungsmittel des Freien Westens schlechthin, seine Gewaltmaschinerie. Genauer darum, das Waffenpotential gegen den Feind im Osten aufzufüllen und für den Einsatz aufzubereiten. Nachdem die neuen Mittelstreckenraketen nun da sind, abschußbereit gemacht werden und planmäßig ihre volle Zahl erreichen, schlägt die NATO das nächste Kapitel der Vorbereitung des großen Krieges auf.

Weinberger hat das "Blatt umgeschlagen", die nukleare Aufrüstung Europas ist gelaufen. Mit der Wucht dieser Bedrohung des Feinds im Rücken widmen sich die NATO-Verbündeten neuen Aufgaben. Für den Ernstfall bleibt noch viel zu tun.

Gefechtsklarheit an der Europafront

Die Entwicklung und Beschaffung neuer Rüstungstechnologien konventioneller Art ("Emerging Technologies" = E. T.) soll vorangetrieben werden. Es befördert nämlich die Freiheit der Kriegsführung, wenn in einem konventionellen Schlagabtausch taktische Waffen zur Verfügung stehen, die die Wirkung taktischer Nuklearwaffen übertreffen. Außerdem läßt sich das sehr propagandawirksam als nukleare Abrüstung verkaufen. Sieg auch in einem konventionellen Krieg ist das Planziel. Das bürdet zudem dem Gegner das Risiko auf, die atomare Eskalation zu wagen. - Und diese "Stärkung der konventionellen Verteidigung", die erklärtermaßen das Konzept der "flexible response" nicht ablöst, sondern "an die neue Technik anpaßt", soll den Zweck haben, "die atomare Schwelle zu heben"?

Mehr Panzer, mehr Panzerabwehrwaffen, mehr Artillerie werden selbstverständlich auch nur deshalb angeschafft, um die atomare Schwelle zu heben. Im Atomzeitalter, wo die wundersame Umwertung aller Werte stattfindet, werden Panzer und Kanonen nicht mehr zum Überrollen, Einkesseln und Zusammenschießen gebraucht, sondern um einen Atomkrieg zu verhindern. Westdeutsche Berichterstatter kriegen zumindest keine kurzen Beine, wenn sie diese saudumme Lüge der NATO-Politiker, die gar nicht an sie glauben, einfach so wiedergeben.

"In einem besonderen Anhang zum Communique betont die Eurogruppe die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Stärkung der konventionellen Verteidigung, um die atomare Schwelle zu heben. Bereits im nächsten Jahr erhielten die NATO-Streitkräfte in Mitteleuropa 700 neue Kampfpanzer sowie 350 andere Panzerfahrzeuge und 60 Geschütze schwerer Kaliber. Die NATO verfüge außerdem über mehr als 40 000 tragbare Panzerabwehrsysteme." (Süddeutsche Zeitung)

Wann stellt man wohl schwere Geschütze auf? Hat sich etwa an deren Funktion, seit es sie gibt, etwas geändert? Schießen sie etwa heutzutage die nukleare Schwelle in die Höhe?

3. "Luftverteidügung", "NATO-Luftabwehr"? Wann war das noch, wo so etwas wichtig wird? Etwa wenn dem Feind das Risiko eines Erstschlags einfach so groß gemacht wird, daß "unsere" Luftverteidigung sich erübrigt? Offenbar glaubt die NATO an ihre Abschreckungsideologie ganz anders, als man denken soll:

"Insbesondere sei die Sorge geäußert worden, daß die Ankündigung Belgiens, seine Truppen aus dem Luftabwehrgürtel in der Bundesrepublik abzuziehen, eine gefährliche Lücke im Luftverteidigungssystem der Allianz entstehen lasse." (Süddeutsche Zeitung)

In Brüssel ist diese gefährliche Lücke schon geschlossen worden. Kostenpunkt: 6 Milliarden. Halbe Halbe für die BRD und die USA. Ist das jetzt zu teuer oder nicht? Keines von beidem! Denn der bundesrepublikanische Waffenetat orientiert sich "in erster Linie an der Bedrohung (!) und nicht an der Finanzkraft" (Wörner). So hat - denn auch die Meldung über die vereinbarte "Modernisierung der Luftverteidigung" einen ganz ungeschäftsmäßigen Titel: Nur eine kleine Auswechslung:

"'Patriot' löst 'Nike' ab

Bundesuerteidigu ngsminister Manfred Wörner und sein amerikanischer Amtskollege Caspar Weinberger unterzeichneten eine Vereinbarung, wonach beide Staaten in den nächsten Jahren erhebliche Beträge zu Modernisierung der Luftverteidigung ausgeben werden. Die mit nuklearen und konuentionellen Sprengköpfen bestückte Flugabwehrrakete Nike soll durch den ausschließlich konventionellen Typ Patriot ersetzt werden. Die Bundesrepublik wird zwölf Feuereinheiten des neuen Typs - eine Feuereinheit hat zwischen 24 und 32 Raketen - kaufen, zwölf Feuereinheiten bekommt sie von den Amerikanern zur Verfügung gestellt. Weitere zwölf Patriot-Feuereinheiten beschafft das amerikanische Heer. Diese insgesamt 35 Feuereinheiten werden ausschließlich von deutschen Soldaten bemannt.

Als 'Gegengeschäft' für die Patriot, die die Bundesrepublik nicht bezahlen muß, stellt Bonn 27 noch zu beschaffende Roland-Flugabwehrraketen-Systeme für amerikanische Flugplätze in der Bundesrepublik zur Verfügung. Ebenso wie 60 weitere Roland-Systeme, die deutsche Einsatzflugplätze schützen sollen, werden diese Tiefflugabwehrwaffen-Systeme von deutschen Soldaten bedient und gewartet. Das gesamte Rüstungsprogramm soll nach Informationen aus Brüssel etwa sechs Milliarden Mark kosten, von denen beide Seiten jeweils die Hälfte tragen."

Handelt es sich nun um eine Sternstunde der Bundesrepublik, daß "Patriot" und Roland" "ausschließlich von deutschen Soldaten" bedient werden? Oder freut sich die deutschnationale Öffentlichkeit so sehr über die Flugabwehr in eigener Verfügung, daß sie gar nicht bemerkt, gestern noch über 14-jährige "Flak-Helfer" im Zweiten Weltkrieg geklagt zu haben? - Ach nein, Modernisierung der Luftabwehr befestigt den Frieden. Was denn sonst, wenn nur deutsche Soldaten ihn verteidigen!

4. Schließlich und endlich ist in Brüssel die unheimliche Gefahr eines Atomkriegs auch dadurch verhindert worden, daß beschlossen ward, die Patronen zu zählen, damit sie nicht ausgehen. Absurd, wo doch heutzutage Computer Menschheiten auslöschen und so Kriege einseitig entscheiden? Absurd ? Keineswegs:

"Die Amerikaner zeigten sich besorgt, daß die Europäer über zu geringe Munitionsvorräte verfügen. Vom Ziel, im Ernstfall für 30 Tage genügend Munitionsreserven zu haben, sei man noch weit entfernt. Auch müßten die Europäer wesentlich größere Anstrengungen für das Infrastrukturprogramm unternehmen. Es sollen bessere Landebahnen und Aufnahme-Einrichtungen sowie Unterkünfte für die US- Verstärkungen im Kriegsfall geschaffen werden." (Süddeutsche Zeitung)

Rationale Kriegsplanung geht halt so, auch im Atomzeitalter. Das weiß doch jeder, wenn die Gewehre geputzt werden, ihre Schießkraft überprüft wird, man die Munition zählt, den Nachschub durchrechnet, die Unterstände und Landebahnen auflistet - was dann ansteht.

Aber ein Bürger der westlichen Freiheit, ein NATO-Bürger soll die Sache natürlich nicht so sehen, wie sie ist. Er soll sich gegen alle militärischen Absichtserklärungen noch denken - was eigentlich nicht leicht ist -, daß die NATO gerade wieder einmal neue Wege der "Kriegsverhinderungsstrategie" eingeschlagen hat. Er soll die "Brüsseler Erklärung" lesen, als sei sie das glatte Gegenteil von den unzweideutigen Vorbereitungen auf den sicher einkalkulierten Kriegsfall.

Drohung als diplomatisches Angebot

Die nukleare Aufrüstung Westeuropas ist gelaufen und steht nicht mehr auch nur dem Schein nach zur Debatte. Ihren Zweck der "Abschreckung" benennt der amerikanische Chefunterhändler Nitze auch einmal so:

"Der einzige Sinn der landgestützten Cruise Missiles und der Pershing 2 ist die Ankoppelung der konventionellen Verteidigung Europas an das strategische Abschreckungspotential der USA und damit die Erhöhung der Abschreckung gegen einen konventionellen Krieg." (Das ist der Krieg, für den auf westlicher Seite gerade die Materialbeschaffung läuft.)

Nein, "wir wollen keine Überlegenheit. Die Sowjets hingegen..." (Nitze). Die Lügen werden offenbar nicht irre an der neuen atomaren Bedrohung, die man gerade dem Feind vorgesetzt hat. Sie blamieren sich nicht daran, daß jetzt die konventionelle Aufrüstung formiert wird, alles für die akute Einsatzfähigkeit der Waffen und Armeen der NATO getan wird. So wird als hervorragendes Ergebnis der Winterkonferenz die "Brüsseler Erklärung" vermeldet. In ihr sollen die NATO-Partner in ganzer Einheit ihren "Abrüstungs- und Verhandlungswillen" bekräftigt haben. Sie sprechen sogar von Versuchen ihrerseits, "neue Möglichkeiten zu nutzen, um den Dialog mit dem Osten zu erweitern". Mit dem zielstrebig verfolgten moralischen Erfolg, daß es die Russen waren, die den Verhandlungstisch verlassen haben; in der Gewißheit, daß die Drohung mit Waffengewalt das beste Mittel ist, dem Feind den eigenen "Kompromiß" zu diktieren, macht die NATO ihre Angebote. Sie bestehen aus lauter Lügen, Unverschämtheiten und Erpressungserklärungen.

"Unser Bündnis bedroht niemanden. Keine unserer Waffen wird jemals eingesetzt werden, es sei denn als Antwort auf einen Angriff...

Wir rufen die Sowjetunion auf, unsere legitimen Sicherheitsinteressen genauso zu respektieren, wie wir die ihrigen respektieren...

Es bleibt unsere Ziel, daß es weder sowjetische noch amerikanische landgestützte INF-Flugkörper großer Reichweite gibt. ...

Wir fordern die Staaten des Warschauer Pakts auf, die von uns gebotenen Möglichkeiten für ein ausgewogenes und konstruktives Verhältnis und für wirkliche Entspannung zu ergreifen..."

Von Angeboten keine Spur. Ein "Honorar", um die Russen nach Genf zurückzuholen, wird es nicht geben. Vorkriegsdiplomatie, in der Kompromisse nicht mehr vorgesehen sind, wird als Mäßigung und Verhandlungswille ausgegeben. Die Deutschen haben für die "Brüsseler Erklärung", die sie durchsetzten, ein dickes Lob von den Amerikanern bekommen. Im Bewußtsein gewachsener Macht hat die Raketenrepublik die Initiative ergriffen und mit der Erklärung alle Spekulationen der Sowjets als unrealistisch zurückgewiesen, die auf ein besonderes deutsches Interesse bauen; denn "besonders" ist nur die bundesdeutsche Heuchelei, mit solchen Erklärungen ein "mäßigendes" Element innerhalb der NATO zu sein.

Die Einheit der NATO war nie besser, freut sich ein amerikanischer Minister. Die BRD macht als bester Bündnispartner noch Fortschritte. Keine Chance für Spaltungsmanöver, liebe Russen.

"Unsere legitimen Sicherheitsinteressen können nur duch die feste Koppelung zwischen Europa und Nordamerika gewährleistet werden." (Brüsseler Erklärung)

Und da soll man sich darüber freuen, daß das Communique der Wintertagung neben der Friedenssicherung mit mehr Waffen die "Entspannung mit dem Osten" als "gleichberechtigte Säule" der westlichen Politik vorsieht? Stellen denn nicht die Aufrüstungsbeschlüsse eindeutig klar, was mit der Entspannung gemeint ist, die man in NATO-Kreisen heute die "wirkliche" nennt?