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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1982 erschienen.

Systematik

Das Röhren-Gas-Geschäft
DIE DURCHSETZUNG EINER NEUEN OSTHANDELSMORAL

"Genscher und Mitterrand werden Reagan zweifellos an den Umfang des finanziellen Engagements erinnern, der im Ost-West-Handel steckt; sie werden mit einer Rettung der Entspannung argumentieren, soweit sie nur möglich ist. Aber Ronald Reagan wird seine Auffassung auch sehr deutlich machen: Was das Problem bei Wirtschaftssanktionen auch immer sein mag, der Westen kann Moskau unmöglich erlauben, aus der ständig sich verschärfenden Krise in Polen ungestraft hervorzugehen." (Newsweek, 15.3.82)

Das Resultat dieses wie jedes europäisch-amerikanischen Meinungsaustauschs in Sachen Osthandel in den letzten Monaten ist ein echt atlantischer Kompromiß: Die Fortsetzung des Ostgeschäfts wird gestattet 1. in einer Form, die das Geschäft für die andere Seite in jeder nur erdenklichen Weise verdirbt. 2. wird mit der "Erlaubnis" klargestellt, daß es sich hiermit ab sofort um eine Letzte, eigentlich schon unverzeihliche Ausnahme handelt. Das heißt 3., daß die amerikanische "Duldung" dieses europäischen Fehltritts ihren Preis hat.

Durch den "anhaltenden Widerstand" der USA ist das Geschäft nun zu ziemlich anderen Bedingungen zustandegekommen und unterscheidet sich gewaltig von dem ursprünglich gefeierten "10-Milliarden-DM-Jahrhundertgeschäft für die deutsche Wirtschaft".

Die Hausbanken der infragekommenden deutschen Lieferunternehmen für die Leitung nebst Zubehör zeigten sich mit dem 10-Mrd.-DM-Geschäfts-, d.h. Kreditvolumen nicht mehr recht zufrieden, wollten nur noch ca. 2,5 Mrd. kreditieren. D.h. die Sowjetunion mußte sich in den anderen Abnehmerländern des Gases nach Lieferanten und Banken für die restlichen Milliarden der Gas-Pipeline umsehen und das geplante Projekt dementsprechend zurechtstutzen.

Die Pipeline wird weder als die ursprünglich geplante Hochdruckleitung gebaut, noch bis in das ursprünglich geplante, noch zu erschließende Jamal-Gebiet, sondern nur bis zu dem bereits angezapften Tjumen-Gaslager.

Sie wird überhaupt nicht wie geplant bis Anfang 1984 fertig, da wegen der amerikanischen Boykottmaßnahmen wichtige Zubehörteile derzeit nicht zur Verfügung stehen. Die Verzögerung wird auf ein bis zwei Jahre geschätzt, das Ausmaß der daher der SU zu berechnenden Verteuerungen der Pipeline steht noch nicht fest.

Der ausgehandelte Gaspreis wird von der Ruhrgas AG, der Hauptabnehmerin, als "sehr günstig" bezeichnet, auch unter Berücksichtigung der inzwischen nicht unbeträchtlich gefallenen Weltmarktpreise für Öl und Gas. Die anderen Abnehmer haben diese günstige Konstellation noch einmal kräftig ausgenützt, um andere Lieferanten im Preis, zu drücken und insbesondere die sowjetischen Verkäufer darauf hinzuweisen, daß sie schon dankbar sein müssen, wenn man von ihrem Gas überhaupt etwas nimmt und daß sich diese Dankbarkeit in entsprechenden Preisen und Aufträgen niederschlagen sollte. Die SU kann bereits damit ihre urspiünglichen Kalkulationen für das Geschäft, die sie in ihren Plan eingesetzt hat, vergessen. Dazu kommt, daß

für die anfangs ins Auge gefaßten Abnahmemengen an Gas angesichts des mittlerweile am Welt-Gasmarkt erzeugten Überangebots die Revision nach unten ansteht, während

die Rückzahlungsfristen der von der SU für die Bezahlung der Pipeline aufgenommenen Kredite auf Druck der deutschen Banken von einmal geplanten mehr als 10 Jahren auf 5 Jahre verkürzt wurden, mit Tilgungsbeginn ab 1984, ob die Leitung bis dahin fertig ist oder nicht.

Für die beteiligten europäischen Unternehmen ergibt sich aus dem politisch festgelegten Geschäftsrisiko die "Notwendigkeit" einer betriebswirtschaftlichen Nachkalkulation der diversen Transaktionen mit dem sehr rationellen Ziel, unter Wahrung des Gewinnpotentials das gewachsene Risiko und seine kostenmäßige Berücksichtigung so weitgehend wie nur möglich dem Vertragspartner aufzuhängen. D.h., sie lassen sich das Festhalten ihrer Staaten am Geschäft gegen den amerikanischen Widerstand von der Sowjetunion teuer bezahlen.

Für die SU sind damit die Konsequenzen gleichermaßen eindeutig. Ihr zu erwartender Nutzen aus dem Röhren-Gas-Geschäft ist auf ein noch dazu völlig unsicheres Minimum geschrumpft: Aus der Erschließung eines eigenen Gasfeldes (Jamal) für den Westexport, das die leichter verfügbaren Gasreserven im Tjumen-Becken für den Eigenbedarf schonen würde, wird nichts. Stattdessen müssen, um den Vertrag einzuhalten, auch die jetzt zusätzlich vereinbarten Mengen aus der nationalen Gasreserve von Tjumen entnommen werden. Da das Pipeline- und das Gasgeschäft in zwei getrennten Verträgen fixiert sind, wird die SU zur Demonstration ihrer Vertragsverläßlichkeit gegen die Unzuverlässigkeit des Westens mit den vereinbarten neuen Gaslieferungen ab 1.1.1984 auch dann beginnen wenn - wie jetzt schon feststeht - die Leitung bis dahin nicht fertig ist. Die verfügbare Kapazität der bestehenden Leitungen für die innersowjetische und RGW-Versorgung die die neue Gaspipeline gerade erhöhen sollte, wird damit weiter eingeschränkt.

Die zu erwartende Verzögerung und Verteuerung des Pipelinebaues, der Rückgang des Gaspreises, die Begrenzung des Lieferumfangs verhindern schließlich zusammen mit den verkürzten Kredittilgungsfristen vorerst recht wirksam, daß die amerikanische Befürchtung Wirklichkeit wird:

"Wenn die westsibirische Gasexportpipeline von westlichen Banken und Industrieunternehmen finanziert und ausgestattet ist und Gas zur Bezahlung der Kredite da ist, dürfte ein erheblicher Anstieg der sowjetischen Hartwährungseinkommen beginnen, vielleicht in der Größenordnung von 10 Milliarden Dollar, wenn die Rohrleitung von Mitte der 80er Jahre an arbeitet." (US News und World Report),

die in die apokalyptische Vision mündet, mit den Deviseneinkommen aus dem Gasgeschäft könne womöglich "bis 1997 der ganze Ostblock schuldenfrei" werden.

Wenn es schon zunehmend unwahrscheinlich wird, daß aus den Röhren und Bauteilen für Kompressorstationen noch eine fertige Pipeline wird, - die Hoffnung auf die Abwicklung des 20-Jahre-Gaslieferprogramms, auf den für die SU allenfalls langfristig einträglichen zweiten Teil des Geschäfts, durch den überhaupt nur der erste Teil, die Leitung, für sie nützlich wäre, die Hoffnung können die sowjetischen Planer ganz streichen.

Mit dem sogenannten "Festhalten" der Europäer an diesem Geschäft ist einiges geleistet worden: Die starken Worte Lambsdorffs vor der Washingtoner Presse, der "Affront" Mitterrands, den französischen Teil des Gasgeschäfts ausgerechnet drei Tage vor Reagans Polen-Fernseh-show unterschreiben zu lassen, haben am Gas-Röhren-Geschäft als dem inneratlantischen Streitpunkt die europäische Souveränität in der ökonomischen und militärischen Erpressung außer Zweifel gestellt. Daneben aber hat der Streit vor allem dazu gedient, die Einigung darüber herbeizuführen, welche Maßstäbe neuerdings an den Osthandel anzulegen sind: Eine Trennung zwischen der politischen Erpressung und Bestrafung des Hauptfeinds auf der einen Seite und einem Handel, der ganz nebenbei stattfindet und diese Absichten nicht stört, ist ab sofort nicht mehr zulässig.

Das amerikanische "Zugeständnis" an die europäische Souveränität, nämlich der vorläufige Beschluß, auf eine "exterritoriale Auslegung" ihrer Embargomaßnahmen zu verzichten und nicht unbedingt jede Ersatzmaßnahme im Rahmen des Gas-Röhren-Geschäfts zu torpedieren, kostet ebenfalls seinen Preis: die von den EG-Chefs schon abgegebene Zusage, gemeinsam mit allen interessierten Parteien die Frage zu erörtern, daß man bislang der UdSSR die Finanzierung ihres Westhandels viel zu leicht gemacht hat. Da läßt sich die frisch gestärkte Satelliten-Souveränität voll in die Konkurrenz darum einbringen, wer sich in dieser Frage am meisten vorwerfen, also am meisten korrigieren muß. Graf Lambsdorff verteidigt bereits lebhaft die Hermes-Bürgschaften vor dem Verdacht, daß es sich dabei "um staatliche Kreditsubventionen handelt."

"Andererseits aber haben die Deutschen keine Schwierigkeiten, ihren amerikanischen Verbündeten beizupflichten, wenn sie auf Abbau oder Fortfall der Zinssubventionen drängten, wie sie andere westeuropäische Länder im Gegensatz zur Bundesregierung gewähren. Damit würde nur eine alte deutsche Forderung erfüllt."

Daß auf diese Weise das Gas-Röhren-Geschäft vorerst erledigt, nämlich in eine umfassendere Fragestellung überführt worden ist, heißt andererseits überhaupt nicht, daß es als atlantischer Streitfall ausgedient hätte. Die durchaus unzweideutige Haltung, die Verteidigungsminister Weinberger und sein zuständiger Staatssekretär Ikle in geradezu catonischer Hartnäckigkeit als ihr "Ceterum censeo..." zum Bestandteil noch so gut wie jeder ihrer öffentlichen Erklärungen machen: Zur Zeit nicht verhindern, aber als grundsätzlich unerwünscht mit allen geeigneten Maßnahmen verzögern, erschweren... "vor allem Frankreich und die Bundesrepublik werden einen solchen Schritt noch einmal bedauern..." (Weinberger), funktioniert als eine dauernde Anklage an die Adresse der Europäer. Und deren Verteidigung schließt die unzweideutige Bereitschaftserklärung ein, die amerikanischen Maßstäbe im Umgang mit dem Hauptfeind zu respektieren und das europäische Handelspotential dafür nützlich zu machen. Mit der Rede von den "einzuhaltenden Verträgen" ist ja zugleich gesagt, daß mit neuen Verträgen oder der Verlängerung abgelaufener nichts mehr drin ist. Und mit dem gegenüber den USA angebrachten Verweis auf deren ebenfalls fortdauernde Getreidelieferungen an die Russen drückt man aus, daß im Fall einer von den USA angesagten und praktizierten Verschärfung natürlich auch die "abgeschlossenen Verträge" des Röhren-Gas-Geschäfts zur Disposition stehen.

Daß das alles bloße Lippenbekenntnisse sein sollten, bloße Rhetorik, während die Europäer nach wie vor an ihren Geschäften kleben, wie es die journalistischen Scharfmacher sehen wollen; daß es umgekehrt die tröstliche Gewißheit vermitteln soll, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird - wie es vereinzelte unverwüstliche Anhänger der Entspannungsideologien wissen wollen, solche Betrachtungsweisen leben von dem Fehler, sich mit dem Ideal eines Boykotts, einem sofortigen und totalen Abbruch sämtlicher Geschäfte zu bestätigen, daß es der Westen entweder nicht ernst genug oder doch nicht ganz so schlimm meint. Es verhält sich aber anders: In einem äußerst demokratischen Streit im Bündnis verpflichten sich die NATO-Mitglieder wechselseitig auf die stetig härter anzulegenden Maßstäbe, feilschen um noch erlaubte Voiteile mit Zugeständnissen in anderen Fragen und sorgen so gerade durch ihre Konkurrenz dafür, daß die Einschränkung des Osthandels und die Schädigung dieses Handelspartners schrittweise eskalieren. Damit ist garantiert, daß ganz ohne spektakuläre Boykott-Beschlüsse, wie sie sich der bürgerliche Sachverstand als "echten" Boykott ausmalt, der Handel mit dem Hauptfeind nur noch bedingt stattfindet, unter Bedingungen, die laufend verschärft werden, und auf diese Weise der strategischen Berechnung unterworfen wird, so daß seine Beendigung nurmehr ein diplomatischer Akt ist - der es in sich hat.